Elke, der Schlingel
DAS BILD VOM STUMMELSCHWANZCHEN
Wer an diesem frühen, kalten
Novembermorgen einen Blick in Elkes Schlafzimmer hätte tun können, würde einen
ergötzlichen Anblick gehabt haben: Elke lag ihrer ganzen Länge nach bäuchlings
auf dem Fußboden, nichts rührte sich an ihr, außer daß ihr rechter Arm sich
ganz vorsichtig immer ein bißchen Weiter vorschob. In der Hand dieses selben
Armes hielt sie ein kleines Stück Kuchen, und das war für die Maus bestimmt,
die bis auf etwa einen Meter an sie herangekommen war. Es war eine ganz
reizende kleine Maus mit bräunlichem Fell, großen, aufmerksamen Ohren,
blitzblanken, schwarzen Knopfaugen und einem Schnurrbart, über den Elke
geradezu in Entzücken geriet. So ein winzig-kleines Wackelschnäuzchen hatte die
Maus — ihre Maus! — und dazu die langen schwarzen Schnurrhaare — es war einfach
zum Lachen.
Aber jetzt lachte Elke nicht, sondern
sie strengte sich an, ganz reglos zu bleiben. Sie preßte die schmalen Lippen ihres
kecken Mundes fest aufeinander — die Nasenflügel ihrer etwas zu kurz geratenen
Stupsnase hielt sie dabei etwas gebläht —, und sie ertrug es, buchstäblich ohne
mit der Wimper zu zucken, daß eine Haarsträhne ihres aschblonden,
kurzgeschnittenen Schopfes, die ihr in die Stirn gerutscht war, sie fast
unerträglich kitzelte. Eine große Hoffnung erfüllte Elke: vielleicht fraß die
Maus heute das erstemal aus der Hand! Schon oft war Minimax — das war der Name,
den Elke ihrer Mausefreundin gegeben hatte — ziemlich nahe herangekommen, aber
so nahe wie heute morgen noch niemals. Wenn doch bloß dieses Mal was draus
würde, daß Minimax ihr das Stück Kuchen aus der Hand nahm!
Wieder machte die Maus ein paar
vorsichtige kleine Schrittchen auf Elkes Hand zu, und Elke sah ganz genau, wie
ihr Schnuppernäschen unruhig hin und her ging. Und wieder ein paar Schritte —
der Abstand bis zu dem begehrten Kuchenstückchen betrug jetzt höchstens einen
halben Meter. Wenn doch nur alles gut ging!
Es ging nicht gut. Auf dem Korridor wurden
Schritte hörbar, und im Nu war die Maus verschwunden.
Noch ehe Elke sich vom Fußboden hatte
erheben können, wurde die Tür geöffnet, und Fränzi trat ein. Sie brachte Elkes
Frühstück. Fränzi war die jüngere der beiden Hausangestellten, die in dem großen
Hausstand von Elkes Eltern die tägliche Arbeit taten.
Elke war im ersten Augenblick froh,
daß es nur Fränzi war, die sie auf dem Fußboden überraschte, aber dann machte
sie auch gleich ihrer Enttäuschung Luft. — „Zu schade! Sie wäre beinahe zahm
geworden“, sagte sie.
Fränzi blickte sich im Zimmer um.
„Also deshalb diese feenhafte Beleuchtung, weil du wieder mit deiner elenden
Maus zugange gewesen bist!“
„Es ist keine elende Maus“,
widersprach Elke.
„Wenn du dich wenigstens erst fertig
angezogen hättest“, fuhr Fränzi fort, ohne Elkes Einwand zu beachten. „Es ist
doch kalt im Zimmer, und du legst dich ohne Kleid der Länge nach auf den
Fußboden.“
„Ich hab’ den Bettvorleger
untergelegt, und außerdem war es mir doch ganz einerlei, ob es kalt war, denn
Minimax ist beinahe zahm geworden“, erklärte Elke. „Bloß weil du gekommen bist,
ist wieder alles umsonst gewesen.“
„Nun mach aber’n Punkt!“ Fränzi setzte
eine ernsthaft gekränkte Miene auf. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du
wie immer im Eßzimmer gefrühstückt, aber ich sollte dir ja durchaus das
Frühstück hierher bringen. Was soll überhaupt der Unsinn?“
Elke zog ihr buntgeblümtes wollenes
Dirndlkleid mit den langen Ärmeln über und kämmte sich das Haar glatt. An der
rechten Seite befestigte sie eine Spange, damit ihr keine Strähnen ins Gesicht
fallen könnten. Anke, ihre älteste Schwester, die Medizinstudentin, sagte zwar
immer, daß die Spange entsetzlich aussähe und daß sie sie auch gar nicht
brauche, weil ihr Haar von Natur aus gewellt war und sich auch so beieinander
hielt, aber Elke hatte sich trotzdem für die Spange entschieden.
Fränzi betrachtete die nun fertig
angezogene Elke. Das langärmelige Dirndlkleid war nicht nach ihrem Geschmack.
„Daß du gerade das Kleid anziehst!“ sagte sie.
Elke hatte sich inzwischen auf dem
Stuhl neben dem Waschtisch niedergesetzt und damit angefangen, ihr Frühstück zu
verzehren, das aus einem großen Teller Haferflocken bestand und einer Scheibe
Graubrot, die mit Butter bestrichen war. Sie aß nicht in der Art unruhiger Kinder,
die sich vor der Schule kaum die Zeit gönnen,
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