Ich darf nicht vergessen
Gott, ist das lange her, Jen.
Wie lange haben Sie sich nicht gesehen?, fragt die Blondine. Sie wartet nicht auf eine Antwort. Ihnen müssten eigentlich die Ohren gesummt haben, sagt sie. Peter spricht von nichts anderem als von Ihnen.
Sie lächelt. Er lächelt. Ich lächle auch.
Ja, ich hatte tatsächlich Ohrensausen, sage ich.
Schweigen. Sie wirken verlegen. Dann spricht der Mann wieder, diesmal weniger beherzt, sanfter.
Du erinnerst dich gar nicht mehr an mich, nicht wahr?, fragt er. Aber er schaut mich nicht so flehend und gekränkt an wie die meisten Leute, wenn sie mich das fragen. Er schenkt mir nicht diesen Blick, der mich bittet zu lügen, sie zu beruhigen.
Er ist mir sofort sympathischer. Nein, sage ich. Kein bisschen.
Ich bin in der Stadt, um alles zu regeln, sagt er. Ich war auch zur Beerdigung hier, aber alle waren der Meinung, ich sollte dich lieber nicht belästigen. Leider ist alles ein bisschen kompliziert. Amanda hat nach der Scheidung kein neues Testament verfasst. Ãber das Haus und das Grundstück muss durch ein Nachlassgericht entschieden werden. Es wird Monate dauern, das zu regeln. Erst mal müssen die nächsten Verwandten ausfindig gemacht werden, die das Haus erben. Es war eigentlich das Einzige, was sie besaÃ. Selbst bei der derzeitigen Marktlage wird es eine ordentliche Summe einbringen. Aber vorerst sind mir die Hände gebunden.
Welche Scheidung?, frage ich. Welche Beerdigung?
Er überlegt. Tja, ich werde es einfach für dich mit in Erinnerung behalten, sagt er lächelnd. Dann wird er ernst. Ich habe gehört, dass du Probleme mit der Polizei hast, sagt er. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich an dich glaube. Ohne Vorbehalte. Offenbar weiÃt du nicht, wovon ich rede. Wahrscheinlich wirst du dich auch später nicht daran erinnern. Aber für den Fall, dass doch etwas hängen bleibt, wollte ich es dir sagen.
Die Blondine macht Anstalten aufzustehen.
Nein, nein. Bleiben Sie ruhig, sagt er. Das ist kein vertrauliches Gespräch. Ich wollte es nur ausgesprochen haben. In erster Linie für mich selbst. Abgesehen davon würde ich mich gern über schöne Dinge unterhalten, sagt er. Vielleicht zündet der Funke ja bei irgendwas.
Ich spiele die Sekretärin, sagt die Blondine. Ich schreibe alles auf. Dann kann sie es lesen, wenn sie mal einen besseren Tag hat. Sie geht aus dem Zimmer, kommt mit einem groÃen ledernen Buch zurück, schlägt es an einer leeren Seite auf und nimmt einen Stift. Sie schreibt etwas oben auf die Seite, hält inne und sieht den Mann erwartungsvoll an.
Hm, wo soll ich anfangen?, fragt der Mann. Es war einmal. Ja, so machen wirâs. Ein zum Mythos gewordenes Ereignis. Voller Archetypen.
Das interessiert mich. Ja, los, sage ich.
Es waren einmal sechs Menschen. Vier Erwachsene und zwei Kinder. Zwei verheiratete Paare. Das eine Paar war etwa zehn Jahre älter als das andere und kinderlos. Das jüngere Paar hatte eine Tochter und einen Sohn. Das Mädchen war noch sehr klein, vielleicht zwei. Der Junge war sieben. Obwohl die Geschwister im Alter ziemlich weit auseinander waren, verstanden sie sich gut. Er unterbricht sich und denkt nach. Was soll ich dir über sie erzählen? Nichts Allgemeines. Am besten ein spezielles Ereignis. Und er fährt fort.
Eines Tages beschlieÃen sie, zum Baden zu fahren. Sie packen ein paar Schinkenbrote ein, hartgekochte Eier, Ãpfel, Birnen und einige Flaschen Wein.
Sie fahren aus der Stadt hinaus. In Richtung Norden. Zu einem öffentlichen Park mit vielen Dünen, wo man an einem schönen Sommertag wie diesem kaum Leute antrifft.
Natürlich gibt es dafür einen Grund. Ein riesiges Atomkraftwerk erhebt sich drohend hinter den Dünen und ergieÃt seine verseuchten Abwässer in das seichte Wasser. Es verbreitet eine Dunstglocke über die Landschaft, die schädlich ist für Menschen mit schwachem Herzen. Aber das gilt auf keinen Fall für diese vier Erwachsenen. Sie scherzen über die etwas zu hohe Temperatur des Seewassers, über mutierte Fische und die übergroÃen Wasservögel.
Die Zweijährige, nackt bis auf ihre Windel, wird von ihrer Mutter zum Ufer geführt, damit sie die FüÃe ins Wasser stecken kann. Der Junge nimmt sein Eimerchen und sein Schäufelchen und gräbt wahllos Löcher in den Sand. Die ältere Frau und die beiden Männer setzen sich auf Klappstühle und unterhalten sich. Alles
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