Ich darf nicht vergessen
Ich zeige auf etwas, das rechts neben ihrem Teller liegt, etwas, das ich nicht habe.
Das ist ein Messer.
Ich will auch eins.
Nein, Sie brauchen keins. Sehen Sie, Ihr Essen ist weich, es lässt sich leicht in mundgerechte Portionen teilen. Dazu braucht man kein Messer.
Aber das Ding gefällt mir. Am besten von allem.
Das ist verständlich.
Wie lange sind Sie schon hier?, frage ich.
Ungefähr sechs Jahre.
Und was haben Sie getan?
Wie meinen Sie das?
Dass man Sie hierhergeschickt hat. Was haben Sie getan? Alle, die hier sind, haben ein Verbrechen begangen. Manche ein Schlimmeres als andere.
Nein, ich arbeite hier. Mein Name ist Laura. Ich bin die Heimleiterin. Sie lächelt. Sie ist groà und breitschultrig. Kräftig und kompakt. Und welches Verbrechen haben Sie begangen?, fragt sie.
Das möchte ich lieber nicht sagen.
Das ist in Ordnung. Sie brauchen es mir nicht zu erzählen. Es ist nicht wichtig.
Wie lange sind Sie schon hier?
Sechs Jahre. Mein Name ist Laura.
Ihre Halskette gefällt mir, sage ich. Ein Wort fällt mir ein. Opal?
Ja. Ein Geschenk von meinem Mann.
Mein Mann ist beruflich verreist. Irgendwie weià ich das. Zu einer Konferenz in San Francisco. Er reist viel.
Dann fehlt er Ihnen bestimmt.
Manchmal, sage ich. Und dann kommen die Wörter plötzlich viel leichter.
Manchmal gefällt es mir, mich im Bett umzudrehen und eine Stelle zu finden, wo die Laken noch kühl sind. Er kann nämlich ziemlich viel Platz für sich beanspruchen.
Aber Sie scheinen ihn sehr zu lieben. Sie sprechen oft von ihm.
Was halten Sie da in der Hand?
Ein Messer.
Wozu braucht man das?
Zum Schneiden.
Daran erinnere ich mich. Kann ich auch eins haben?
Nein.
Warum nicht?
Es ist zu gefährlich.
Für wen?
Vor allem für Sie selbst.
Nur vor allem?
Es besteht eine gewisse Gefahr.
Dass ich andere verletzen könnte?
Ja.
Aber ich bin Ãrztin, sage ich.
Und Sie haben einen heiligen Eid geschworen.
Mir wird eine Vision zuteil. Ein gerahmtes Schriftstück, das an einer Wand hängt. Ich lese vor, was darauf geschrieben steht. Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygeia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen als Zeugen an ⦠Das Bild verschwindet, ehe ich zu Ende lesen kann.
Eindrucksvolle Worte. Beinahe beängstigend.
Ja, das fand ich auch schon immer, sage ich.
Dann ist da ja auch noch die Stelle, die allgemein bekannt ist, wo man schwört, niemals einem Menschen Schaden zuzufügen, sagt die grauhaarige Frau.
Ich habe diesen Eid immer geachtet, sage ich. Ich glaube, das habe ich getan.
Sie glauben es?
Da ist etwas, das mir keine Ruhe lässt.
Ach?
Ja, es hat etwas zu tun mit dem Ding, das Sie in der Hand halten.
Das Messer.
Ja, das Messer.
Die Frau beugt sich vor. Sie erinnern sich? Nein. Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Falls Sie sich erinnern, behalten Sie es für sich. Erzählen Sie es mir nicht.
Ich verstehe nicht, sage ich.
Nein, heute nicht. Heute ist kein Tag, an dem Sie es verstehen können. Aber vielleicht erinnern Sie sich morgen daran. Oder übermorgen. Das Gedächtnis ist kapriziös. Es wäre besser, wenn Sie sich keine allzu groÃe Mühe gäben. Mehr sage ich nicht.
Dann steht sie auf und nimmt das schöne, glänzende, scharfe Ding mit. Messer.
E s gibt ein Lebewesen, das immer noch erzittert, wenn ich ihm etwas befehle. Ein kleiner Hund, der mich irgendwie ins Herz geschlossen hat. Eine Promenadenmischung. Ich hatte noch nie etwas übrig für Hunde. Im Gegenteil. Die Kinder haben mich vergeblich angebettelt.
Anfangs habe ich das Ding mit einem FuÃtritt verscheucht. Doch es hat nicht aufgegeben, hat mich von morgens bis abends verfolgt. Die anderen Heimbewohner versuchen, es von mir wegzulocken, aber nachdem es ein Leckerchen gefressen hat oder nachdem es sich zitternd hat kraulen lassen, kommt es jedes Mal zu mir zurück.
Ich weià nicht, wem der Hund gehört. Er läuft frei auf den Korridoren herum, und alle mögen ihn. Aber mich verfolgt er auf Schritt und Tritt. Obwohl er im Fernsehzimmer ein Bett hat, obwohl im Speisesaal ein Wasser- und ein Futternapf für ihn stehen, schläft er bei mir. Kaum habe ich mich hingelegt, spüre ich einen leichten Plumps, höre die Laken rascheln, und dann kuschelt sich ein kleiner, warmer Körper an mich. Eine Zunge kratzt meine Hand. Der Hundegeruch, den ich immer gehasst habe. Mit der Zeit ist
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