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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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bedeutet. Nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Vielleicht eine Hand auf einem Schenkel. Es werden sehr wenige Worte gesprochen.
    Ehemänner und Ehefrauen, die zu Besuch kommen, ernten ausdruckslose Blicke. Einige weinen, alle sind erleichtert. Eine Last weniger. Aber diese Liebenden. Ewig auf der Suche zu sein, verliebt zu sein, in dieser unwürdigen Lebensphase Zuflucht bei einem anderen Menschen zu suchen und bei ihm hängen zu bleiben. Gott bewahre mich davor, das noch einmal durchmachen zu müssen.
    Nur zweimal war ich so dumm. Bei James. Und dann noch einmal bei dem anderen. Natürlich ist es unschön ausgegangen. Wie hätte es anders kommen können? Sein junges, gekränktes Gesicht. Seine Besitzansprüche.
    Er dürfte jetzt an die Fünfzig sein– was für ein eigenartiger Gedanke. Zehn Jahre älter, als ich damals war. Ich habe mich nie darum gekümmert, wie es ihm ging, nachdem es vorbei war. Ich nehme an, er hat es schnell überwunden. Schöne Menschen haben es leicht im Leben.
    Aber nicht seine Schönheit hatte mich zu ihm hingezogen. Es war sein Gefühl für das Messer. Das hat mich fasziniert. Wie er das Skalpell hielt, als würde er die Hand seiner Geliebten halten. Dass einer diese Leidenschaft, diesen Drang besitzen kann, aber kein Talent. Er tat mir leid. Und dann verwandelte sich das Mitleid in etwas anderes. Ich habe nie das Wort Liebe benutzt. Es war nicht vergleichbar mit dem, was ich für James empfand. Doch es war auch mit nichts anderem vergleichbar. Und das ist schon was.
    Wenn man sein Leben Revue passieren lässt, fallen einem die herausragenden Momente ein. Die Höhen und die Tiefen. Er war eine der höchsten Höhen. In gewisser Weise höher als James. Wenn James einen zentralen Berg in der Landschaft meines Lebens darstellt, dann war dieser Junge eine andere Art von Gipfel. Höher, spitzer. An seinen schroffen Hängen hätte man nicht bauen können. Aber die Aussicht war spektakulär.
    A uf dem weichen Teppich befinden sich bunte Klebebandstreifen– die den Eindruck von Luxus ein bisschen verderben, aber sie sind sehr nützlich. Wir leben in einer linearen Welt. Wir gehen geradeaus. Man biegt rechts ab, und man biegt links ab.
    Die blaue Linie führt mich ins Bad. Rot führt in den Speisesaal. Gelb ins Fernsehzimmer. Braun bezeichnet den Rundgang. Um den großen Raum in der Mitte der Station herum und herum und herum.
    An den Zimmern vorbei, am Speisesaal vorbei, am Fernsehzimmer vorbei, am Aufenthaltsraum vorbei, an der doppelflügeligen Tür vorbei, die in die Außenwelt führt und auf der in verführerischem Rot AUSGANG steht. Man geht weiter und weiter, immer in Bewegung.
    E twas lässt mir keine Ruhe. Etwas, das an einem sterilen, hell erleuchteten Ort wohnt, wo es keinen Raum für Schatten gibt. An dem Ort für Blut und Knochen. Und doch gibt es Schatten. Und Geheimnisse.
    D ies ist ein überaus sauberer Ort. Ständig wird geputzt, gestaubsaugt, die Farbe erneuert. Staubgewischt. Repariert. Alles ist makellos. Und luxuriös. Ein Fünf-Sterne-Hotel mit Gittern. Das Ritz für Geisteskranke. Breite, weiche Sessel im großen Zimmer. Ein riesiger Flachbildschirm im Fernsehzimmer. Überall frische Blumen. Überall der Geruch nach Geld.
    Auch uns halten sie sauber. Regelmäßiges Duschen mit antiseptischer Seife. Raue Waschlappen, routiniert zum Einsatz gebracht von groben Händen. Die Würdelosigkeit, den Bauch oder den Hintern gewaschen zu bekommen.
    Warum schrubbt man uns die Haut mit einer Bürste? Sollen die toten Zellen sich doch ansammeln, bis sie mich mumifizieren und ich so bleibe, wie ich bin. Kein weiterer Verfall. Wenn dieser Abstieg doch aufzuhalten wäre. Was würde ich nicht dafür zahlen. Was würde ich nicht dafür geben.
    I ch sitze bei einer sehr gepflegten Frau mit luftigem grauem Haar. Wir befinden uns im Speisesaal, sitzen an dem langen Gemeinschaftstisch. Es ist für etwa ein Dutzend Leute gedeckt, aber wir sind die Einzigen, die essen.
    Auf meinem Teller schwimmen lange, bleiche, dünne Fäden in einer dicken, roten Flüssigkeit. Auf dem Teller der Frau neben mir liegt ein Stück weißliches Fleisch. Außerdem haben wir beide etwas Weißes, Weiches auf dem Teller, über das eine braune Flüssigkeit gegossen wurde. Durch eine Art Nebel erkenne ich eine Kollegin. Eine Person, die ich respektieren könnte.
    Was ist das?

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