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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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zu viel Selbstmitleid haben, würden es als Todesurteil für die Freuden des Lebens empfinden, wenn bei ihnen Zöliakie diagnostiziert würde. Wenn sie vorher gewusst hätten, was sie erwartete, was hätten sie anders gemacht? Sich mehr gegönnt? Oder eher mit der Diät angefangen?
    Meine Milch kommt. Und ein kleines Schälchen Tabletten. Ich spucke in die Milch und schleudere das Schälchen vom Tisch, so dass die Tabletten in alle Ecken kullern.
    Jen!, sagt jemand. Sie wissen doch, dass das gegen die Regeln verstößt.
    Leute bücken sich, krabbeln auf allen vieren auf dem Boden herum, um die roten, blauen und gelben Pillen einzusammeln. Ich widerstehe dem Impuls, demjenigen, der mir am nächsten ist, in den Hintern zu treten, und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Ja, ich werde jede Regel brechen und jede Grenze überschreiten. Während Verstärkung eintrifft, wappne ich mich für den Kampf.
    E twas nagt an mir. Ich bekomme es nicht zu fassen. Etwas, das einen schaudern lässt. Ich wehre mich mit aller Kraft dagegen. Vergeblich. Diese dunkle Scham. Ein einsamer Schmerz, unerträglich.
    B esucher kommen und gehen. Wenn sie zum Ausgang streben, folge ich ihnen, schließe mich unauffällig an, schmeichle mich bei ihnen ein. Wenn sie durch die Tür gehen, gehe ich mit. So einfach ist das. Bisher bin ich jedes Mal aufgehalten worden, aber das ist egal. Irgendwann wird es klappen. Irgendwann wird es keiner merken. Bis zum Essen. Bis dahin bin ich längst über alle Berge. Irgendwann schaffe ich es. Nächstes Mal ganz bestimmt.
    E s gibt hier eine Frau, die immer von Leuten umringt ist. Sie kriegt Tag und Nacht Besuch. Alle lieben sie. Sie ist eine der wenigen Glücklichen. Sie weiß nicht, wo sie ist, sie erkennt nur selten ihren Mann und ihre Kinder, sie trägt Windeln, und sie hat fast alle Wörter vergessen, aber sie ist lieb und heiter. Sie geht mit Würde unter.
    Der Vietnamveteran dagegen ist allein. Keine Besucher. Er durchlebt ständig und lauthals seine glorreichen Tage und seine Alpträume, je nach Tag oder Tageszeit. Entweder hat er an einem der berühmt-berüchtigten Massaker teilgenommen oder nicht. Einige Einzelheiten klingen glaubhafter als andere. Wie er eine tote Ziege in einen Brunnen geworfen hat. Wie Blut wolkig wird, wenn man eine Vene aufschlitzt. Ebenso wie ich begreift er, dass wir alle wegen Verbrechen hier eingesperrt sind, die vor langer Zeit begangen wurden.
    J ames ist heute von einer seiner Reisen zurückgekehrt. Diesmal war er in Albany. Ein anstrengender Fall, sagt er. Sein Terminkalender ist so voll wie meiner.
    Ebenso wenig wie ich ist er mit den Jahren ruhiger geworden. Wir sind immer noch getrieben und engagiert, wie wir es als Studenten waren. Und ich empfinde immer noch diese Aufregung, erlebe ihn immer wieder neu, egal, wie kurz er weg ist. Er ist nicht im konventionellen Sinne gutaussehend. Er ist zu kantig, zu knochig für den Geschmack der meisten. Und dunkel. Von ihm hat Mark seine düstere Ausstrahlung. Und sein finsteres Wesen.
    James will sich hinsetzen, überlegt es sich anders, durchquert das Zimmer und rückt meinen Calder wieder gerade. Dann kommt er zurück. Setzt sich endlich auf den Stuhl, aber nicht entspannt. Er sitzt auf der Stuhlkante, wippt mit dem Fuß. Immer in Bewegung. Macht die Leute nervös, bringt sie dazu, sich ständig zu fragen, was er als Nächstes vorhat. Es ist eine unglaublich nützliche Waffe, sowohl im Gerichtssaal als auch im Leben. In einer Welt, in der die Menschen sich gewöhnlich vorhersehbar verhalten, braucht man bei James den Forschergeist eines Chirurgen: aufschneiden und alles genau untersuchen. Manchmal stößt man auf etwas Bösartiges. Oft auch auf etwas, das einem Grund zur Freude gibt. Aber heute ist er ungewöhnlich still. Es dauert eine Weile, bis er spricht.
    Du siehst grauenhaft aus, sagt er. Aber ich vermute, dass du dich noch viel schlimmer fühlst.
    Du hast noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, sage ich. Und weil ich sein Gesicht im schwachen Licht des frühen Morgens kaum erkennen kann: Würdest du bitte das Licht anmachen?
    Mir gefällt es so besser, sagt er und verfällt in Schweigen. Er spielt mit etwas, das er in den Händen hält. Ich beuge mich vor. Es ist eine Art Medaillon an einer Halskette. Irgendwie scheint es wichtig zu sein. Ich strecke die Hand aus, Handfläche nach oben, die universelle

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