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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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Daneben wartet eine in Weiß gekleidete Frau.
    Möchten Sie die Haare vor dem Schneiden gewaschen bekommen?, fragt sie und beantwortet die Frage gleich selbst. Ah ja, ich sehe schon, das ist nötig.
    Ich werde umgedreht, sanft, aber bestimmt zu dem Waschbecken bugsiert und mit dem Oberkörper nach vorn gedrückt. Mein Haar und mein Hals werden eingeseift und abgespült, eingeseift und abgespült. Eine schmachvolle Prozedur. Ich werde zurückgeführt und auf den Stuhl gedrückt. Die Frau fährt mir mit einem Kamm durchs Haar.
    Und was machen wir heute?
    Eine andere Frau sagt: Kurz, würde ich sagen. Sehr kurz. An der Körperpflege hapert es.
    Die Frau in Weiß antwortet heiter: Sehr gut! Also ein Kurzhaarschnitt!
    Ich versuche zu protestieren. Man hat mir immer Komplimente zu meinem Haar gemacht, wie dick es ist, was für eine schöne Farbe es hat. James nennt mich » Rotschopf«, wenn er in zärtlicher Stimmung ist. Nein, sage ich, aber niemand reagiert. Ich spüre den Druck und die Kälte von Stahl an meiner Kopfhaut, höre das Klippklapp der Schere. Ich werde geschoren wie ein Schaf.
    Mehrere Leute haben sich um mich versammelt und schauen zu. Sie sieht aus wie ein Mann, sagt eine Frau laut, und jemand anders macht Schsch! Ich denke darüber nach. Mann. Frau. Mann. Frau. Die Wörter haben keine Bedeutung. Was bin ich?
    Ich schaue an meinem Körper herunter. Er ist dünn und knochig. Androgyn. Eingesunkener Brustkorb, Hühnerbeine. Ich kann die Femurkondylen und die Patellasehnen durch den Stoff meiner Hose sehen. Meine Fußknöchel ohne Socken durchscheinend und grazil, als könnten sie brechen, sobald ich sie mit meinem Gewicht belaste.
    Sie sehen schön aus, sagt die Frau mit der Schere. Wie Jeanne d’Arc. Sie hält einen Handspiegel hoch. Sehen Sie. Viel besser.
    Ich erkenne das Gesicht nicht. Hohlwangig, die Wangenknochen stehen zu weit vor, die Augen sind ein bisschen zu groß, zu weltfremd. Die Pupillen sind geweitet. Als wären sie es gewohnt, seltsame Visionen zu erblicken. Und dann ein heimliches, zufriedenes Lächeln. Ein Ausdruck der Freude über das, was sie sehen.
    E twas zappelt an meinen Knöcheln. Etwas Kleines, Pelziges. Hund. Das ist Hund. Wie geht der Witz. Mit dem legasthenischen, atheistischen Schlafwandler. Ich bin zu diesem Witz geworden.
    H eute Morgen ist es mir gelungen, meine Tabletten nicht zu schlucken, ich bin also hellwach. Lebendig. Bevor ich sie unter meiner Matratze verstaue, sehe ich sie mir genau an. Zweihundert Milligramm Wellbutrin. Hundertfünfzig Milligramm Seroquel. Hydrochlorothiazid, ein Diuretikum. Und eine Tablette, die mir nichts sagt, länglich und hellbeige. Ich zerbrösele sie genüsslich zwischen den Fingern und lasse die Krümel auf den Teppich rieseln.
    Ich drehe drei Runden durch den großen Raum, wobei ich die braune Linie absichtlich ignoriere. Ich trete darüber, um sie herum, aber nie darauf. Wie bei dem Kinderspiel Kästchenhüpfen. Herum und herum. Ich zähle die Türen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Insgesamt nur zwanzig Zimmer, und vier sind unbewohnt.
    Auf meinem dritten Rundgang bleibe ich vor den schweren Metalltüren am Ende des langen Flurs stehen. Ich spüre heiße Luft, die durch die Ritzen hereindringt, sehe durch die kleinen, dicken Fenster, wie die Sonne auf den asphaltierten Gehweg brennt. Ich erinnere mich an die Sommer in Chicago, schwül, drückend und lähmend. Ebenso wie die bitterkalten Winter machten sie einen zum Gefangenen der eigenen Wohnung oder des Arbeitsplatzes.
    James und ich haben davon gesprochen fortzugehen, sobald wir Rentner sind. Haben von einem mediterranen Klima geträumt. Milde Temperaturen, irgendwo am Meer. Nordkalifornien. San Francisco. Oder vielleicht noch ein bisschen weiter unten an der Küste, Santa Cruz, San Luis Obispo. Santa Barbara. Oder vielleicht sogar das Mittelmeer. Nachdem Fiona aufs College gegangen war, haben James und ich einen Monat auf Mallorca verbracht, aus Angst vor dem Unbehagen, die die Kälte des leeren Nests auslösen könnte. Die sich aber nie eingestellt hat.
    Später redeten wir über eine Finca aus dem achtzehnten Jahrhundert mit einem riesigen Garten. Wir wollten Tomaten, Paprika und Bohnen ziehen. Vom Land leben. Sonnenkollektoren auf dem Dach, ein eigener Brunnen. Abgeschiedenheit. Unsere einsame Insel. Wem versuchten wir etwas vorzumachen? Wir waren sowieso auf dem

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