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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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ist alles in Ordnung, aber der Mann wird immer blasser. Sein Atem geht schnell und flach. Er entwickelt offenbar eine Schocksymptomatik, deswegen sage ich zu den Sanitätern: Schaffen Sie ihn in die nächstgelegene Unfallchirurgie, aber geben Sie ihm zuerst zehn Milligramm Morphin intravenös, um die Schmerzen zu lindern.
    Die Kleine schreit die ganze Zeit wie am Spieß, und alle weichen immer weiter vor uns zurück, alle bis auf den am Boden hingestreckten Motorradfahrer, der es irgendwie schafft, mit den Händen zu gestikulieren.
    Einer der Sanitäter scheint zu verstehen, was der Motorradfahrer mir sagen will, und ruft mir etwas zu, was ich nicht verstehen kann, weil Fiona in dem Moment einen besonders lauten Schrei ausstößt. Der Sanitäter öffnet den Mund, legt die Hände trichterförmig um den Mund und setzt erneut an.
    Sie haben uns sehr geholfen, ruft er. Er macht einen Schritt auf mich zu, hält inne, geht zwei Schritte zurück. Aber könnten Sie uns einen Gefallen tun? Selbstverständlich, rufe ich zurück. Was brauchen Sie? Er zögert. Wir sind Ihnen sehr dankbar!, ruft er und holt tief Luft. Aber könnten Sie jetzt bitte gehen?
    Ich wende mich zum Gehen, kann mich aber nicht bewegen, und plötzlich liege ich wieder in meinem weichen Bett, mit harten Gurten an Armen und Beinen. Neben mir spüre ich einen kleinen Körper, doch er ist still und pelzig und stinkt. Hund. Die Stille tut gut. Aber ich frage mich. Wie lange habe ich noch? Wie lange wird es dauern, bis die Krankheit mich voll im Griff hat und ich in diesem Zustand sprachloser Wut und unerträglichen Leids versinke, in dem Fiona ihr Leben begonnen hat? Nicht mehr lange. Gar nicht mehr lange. Ich öffne den Mund und lege los.
    I ch mag Dinge, die sich angenehm anfühlen. Den Kerzenleuchter aus einem schön gemaserten Holz, wahrscheinlich Mahagoni. Die Gebetskette mit Perlen und dem gläsernen Anhänger in Form eines Auges, der gegen den bösen Blick schützt. Die Teetasse aus Porzellan mit blauem Muster.
    Und den Schal. Ein schlichter, cremefarbener wollener Schal. Lang ist er. So lang, dass er vom Kopfende meines Betts bis zum Fußende reicht. Perfekt geeignet, um ihn mir zum Schutz gegen den Chicagoer Winter um Kopf und Kinn zu wickeln.
    Ich erinnere mich an einige Winter. Einmal ist eine Woche lang die Heizung in unserem Haus ausgefallen und das Wasser in der Kloschüssel zu Eis gefroren. Wir mussten ausziehen. James bestand darauf, ins Hotel Ambassador East zu gehen. Es war eine verrückte Entscheidung, denn die Kinder waren noch klein, und wir konnten den Luxus gar nicht richtig genießen. Wir haben alle zusammen in einem Bett geschlafen, die kleine Fiona krabbelte zwischen uns herum, ihr Atem kitzelte an unseren Wangen. Was für eine herrliche Zeit! James hat Mark geholfen, sich zum ersten Mal zu rasieren, hat ihm das sechsjährige Gesicht mit Rasierschaum eingeschmiert und ganz vorsichtig den Rasierer über seine flaumigen Wangen gleiten lassen. Ich habe Fiona die winzigen Zehennägel knallrot lackiert. Wir haben jeden Abend im Pump Room gegessen, die Kinder bekamen Makkaroni mit Käse, die das Küchenpersonal extra für sie zubereitete, während James und ich Hummerrisotto oder Kalbssteaks aßen. Zum Frühstück gab es Eggs Benedict. Ach, die weichen Eigelbe, die cremige Sauce Hollandaise, der Spargel, der tagelang unseren Urin parfümierte. Nach dem Frühstück kam Ana, damit James und ich zur Arbeit gehen konnten. Ich habe mir jedes Mal mehrere Lagen Kleider angezogen und darüber den Schal aus irischer Wolle und bin ins Krankenhaus gefahren.
    All diese Erinnerungen, ausgelöst durch einen simplen Wollschal. Durch etwas, das ich nicht mehr brauchen werde. Denn hier gibt es keinen Winter. Überhaupt keine Jahreszeiten. Keine Hitze. Keine Kälte. Selbst die Dunkelheit wurde verbannt. Jemand hat gesagt, Es werde Licht, und es herrscht Licht. Permanent. Ein gemäßigtes Klima für unmäßige Menschen.
    E in junger Mann interessiert sich für mich. Ein Student, der sich in seine Professorin verknallt hat. Gott, was haben wir gelacht, als es passiert ist, wir Frauen. Für die Männer ist das nichts zum Lachen. Sie geraten in Versuchung. Sie erliegen ihr. Eine ernste Sache. Für uns dagegen ist es nur ein Spaß.
    Aber dieser junge Mann. Wie er mich beobachtet. Und er ist schön. Spielt das eine Rolle? Ja. Er findet

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