Ich darf nicht vergessen
mich in mich selbst zurück. Ich wende meine ganze Willenskraft auf, um mich von hier fort und an einen anderen Ort zu begeben. Eine Wählscheibe dreht sich in meinem Kopf, und ich warte mit angehaltenem Atem ab, was passiert. Die Freuden und Risiken des Zeitreisenden.
Unversehens betrete ich mein Haus und werde vom Wehgeschrei eines Säuglings begrüÃt. Sofort weià ich, in welcher Situation ich mich befinde. Ich bin gerade zum zweiten Mal Mutter geworden. Ich bin einundvierzig, meine Tochter ist einen Monat alt. Sie schreit schon ihr halbes Leben lang. Jeden Tag von drei Uhr nachmittags bis Mitternacht. Koliken. Das unerklärliche Geschrei eines Säuglings. Die Chinesen nennen es das Hundert-Tage-Geschrei. Ich habe noch fünfundachtzig Tage vor mir.
Sie ist ein besonders schwerer Fall, meint der Kinderarzt. Der Lärm schlägt mir jeden Abend entgegen, wenn ich von einem langen Arbeitstag im OP nach Hause komme. Sobald ich das Haus betrete, drückt Ana, das Kindermädchen, mir den Säugling in die Arme und flüchtet regelrecht aus dem Zimmer. James und Mark haben sich bereits hinter verschlossenen Türen in Sicherheit gebracht.
Ich mache Striche im Kalender, so wie ich es gemacht habe, bevor mein erstes Kind geboren wurde. Wir haben die neuesten Medikamente und Theorien der modernen Medizin ausprobiert. Ich habe Milch- und Weizenprodukte von meinem Speiseplan gestrichen, habe ihr Fläschchen mit Pfefferminz- und Ingwertee gegeben, Tabletten gegen Koliken in Milch aufgelöst, die ich mir abgepumpt habe. Aber nichts hilft, nichts lindert ihre und unsere Qualen.
Um meine Familie vor dem Geschrei zu verschonen, setze ich das Baby jeden Abend in den Kindersitz im Auto und fahre los. Ich fahre zur Tankstelle, trinke irgendwo eine Tasse Kaffee. Wenn ich das Café oder den Supermarkt mit meinem schreienden Bündel betrete, verstummen alle Anwesenden, und ich werde sofort an die Spitze der Schlange vorgelassen.
Heute ist wieder ein typischer Abend. Ich packe eine Thermosflasche mit Kaffee ein, setze das Baby ins Auto und mache mich auf den Weg. Am liebsten fahre ich Autobahn, die langen, schmalen Asphaltbänder, die in alle Richtungen auÃer nach Osten in die Ferne streben und aus Chicago eine riesige Spinne machen.
Ich nehme die Fullerton-Auffahrt auf den Kennedy-Expressway in Richtung Norden, fahre vorbei an den Ausfahrten Diversey Avenue, Irving Park und Edens und weiter zum Flughafen OâHare. Die ganze Zeit schreit das Baby, scheinbar ohne Luft zu holen.
Dieses Geräusch. Dieser Lärm. Manchmal stelle ich den Wagen auf einem Flughafenparkplatz ab. Dann mischen wir uns unter die vielen Menschen, bewegen uns in unserer kleinen Blase. Alle sind unterwegs zu irgendeinem Ziel und haben es plötzlich unseretwegen noch eiliger.
Aber heute Abend fahren wir an OâHare vorbei und weiter nach Nordwesten, durch Arlington Heights und Rolling Meadows, bis wir auf dem Land sind. Die öde, hässliche Ebenheit von Illinois, an die ich mich nie richtig gewöhnen konnte.
Die Kleine hat immer noch nicht aufgehört zu schreien. Es ist erst 21:30 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Ihre Tränendrüsen sind längst ausgetrocknet, inzwischen würgt sie nur noch, hat ihren kleinen Motor überhitzt. Es wird nicht aufhören, bis es Mitternacht schlägt. Bis die Welt wieder in Ordnung ist.
Dann, in einiger Entfernung vor uns, zuckende Lichter, eine Menschenmenge. Ein Unfall. Es sieht ernst aus. Ich halte an, setze die Kleine in einen Tragesitz, den ich mir um Nacken und Hüften schnalle, und gehe los, um nachzusehen, was passiert ist.
Die Leute stieben auseinander, als ich mich nähere, Fionas Geschrei ist so wirkungsvoll wie ein Martinshorn. Ich habe Mühe, sie und den StraÃenlärm zu übertönen, als ich schreie: Ich bin Ãrztin! Wie kann ich helfen? Ein Motorradfahrer liegt am Boden, sein Bein ist mehrfach gebrochen, der Knochen ragt heraus, das Gesicht des Mannes ist so weià wie der Knochen, er kneift die Augen vor Schmerz fest zu.
Als ich mich bücke, gerate ich durch das Gewicht des Babys leicht ins Wanken. Alle weichen vor uns zurück, selbst die Sanitäter. Ich untersuche den jungen Mann, der inzwischen kaum noch bei Bewusstsein ist. Er hat eine offene Oberschenkelfraktur, er wird Antibiotika brauchen, Infusionen, ein Debridement und eine Marknagelung.
Ich taste seine anderen GliedmaÃen ab: die Arme und das andere Bein. Es
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