Ich darf nicht vergessen
ausgebrochen war, ob man weiterhin die Methoden der traditionellen Volksmedizin anwenden oder sich nach den Grundsätzen richten sollte, die Avicenna in seinem Kanon der Medizin dargelegt hatte.
Puh. Gut, dass ich gefragt hab.
Ich hatte am College Geschichte und Biologie studiert. Mit der Doktorarbeit wollte ich meine beiden Leidenschaften unter einen Hut bringen. Aber dann habe ich mich in den Kanon verliebt. Ich war dauernd in der medizinischen Fakultät, habe mit Professoren und Studenten geredet, habe viel beobachtet. Vor allem die Präparationskurse faszinierten mich. Ich wollte unbedingt selbst sezieren. Einer der Studenten hat das mitbekommen. Er hat mich abends mit in den Anatomiesaal genommen und mir gezeigt, wie man das machte, hat mir das Skalpell in die Hand gedrückt und mich bei meinen ersten Schnitten angeleitet.
Dr. Tsien?
Ja. Carl.
So habt ihr euch also kennengelernt? Das wusste ich gar nicht.
Mein erster Mentor.
Was ich mich schon immer gefragt habe: Ist zwischen euch mal was gewesen? Ich meine, habt ihr mal was miteinander gehabt?
Nein, nie. Er hat einfach gespürt, dass ich genauso süchtig war wie er. Er war der Erste, dem ich erzählt habe, dass ich mich entschlossen hätte, die Doktorarbeit sausen zu lassen und Medizin zu studieren. Er hat mich unterstützt, als ich orthopädische Chirurgie als Fachgebiet gewählt habe. In der Welt der Mediziner war es damals nicht gern gesehen, dass eine Frau sich auf diesem Fachgebiet profilierte.
Und was war mit diesem anderen Typen, diesem Partylöwen in eurem Studentenheim? Der Mann lächelt schief.
Ach, der. Der hat mich nur kurzfristig auf Abwege geführt. Damals war mein Leben voller Ãberraschungen. Damit meine ich, dass ich mich ständig selbst überrascht habe. Eine Kehrtwendung nach der anderen. Immer wieder habe ich gut durchdachte Pläne über den Haufen geworfen.
Du und Dad, ihr habt nie viel über eure Anfangsjahre gesprochen. Es kommt mir so vor, als hättet ihr die Zeit in einer Art Rauschzustand verbracht. Er studierte Jura, und du hattest gerade mit Medizin angefangen. Und nach allem, was man so hört, wart ihr restlos ineinander verliebt. Wenn Dr. Tsien davon erzählte, klang es immer so, als hätte er euch darum beneidet.
Ja. So war das.
Du scheinst nicht geneigt, darüber zu reden. Dad war genauso zugeknöpft, wenn es um das Thema ging.
Ich würde lieber nicht darüber sprechen.
Weil �
Weil man manche Dinge besser ruhen lässt. Manche Geheimnisse werden nur ausgeplaudert, ohne dass jemand sie richtig versteht. Wir haben uns gefunden und zusammengetan und die Entscheidung nie bereut, im Gegensatz zu vielen anderen, die in jungen Jahren geheiratet haben.
Der junge Mann nimmt seinen weichen Lederbeutel, beugt sich zu mir herunter, berührt flüchtig meine Wange mit den Lippen.
Tschüs, Mom. Bis nächste Woche. Wahrscheinlich komme ich am Dienstag, das hängt von meiner Arbeit ab.
Ja, zweifellos ein vertrautes Gesicht, eins, das auf verschiedenen Ebenen etwas zum Schwingen bringt. Später, nach dem Abendessen, fällt mir ein Name ein, der zu dem Gesicht gehört. James!, sage ich, worüber der Vietnamveteran so erschrickt, dass er sein Wasser über seinen Brotpudding verschüttet.
Erst einige Zeit später fällt mir auf, dass meine Ikone verschwunden ist. Ich sage nichts dazu. Vorerst.
J emand sagt mir etwas und zeigt auf seinen Kopf. Zeigt auf meinen Kopf. Zieht mir an den Haaren. Ich schiebe die Hände weg.
Der Frisör. Der Frisör ist hier. Sie sind jetzt an der Reihe.
Was ist ein Frisör, sage ich.
Kommen Sie einfach mit, hinterher werden Sie sich groÃartig fühlen.
Ich lasse mich auf die FüÃe ziehen und Schritt für Schritt den Flur hinunterführen, vorbei an Sesseln, die zu kleinen Gruppen angeordnet stehen, als würden sie miteinander plaudern. Auf niedrigen Tischen stehen üppige BlumensträuÃe. Was ist das für ein Ort.
Wir betreten einen groÃen Raum mit einem glänzenden Fliesenboden. An einer Wand stehen hohe Regale mit Plastikkörben, die Wollknäuel, buntes Papier, Buntstifte und dergleichen enthalten. An der gegenüberliegenden Wand eine lange Arbeitsplatte mit einem Waschbecken in der Mitte. Tische und Stühle hat man an einer Seite des Raums zusammengeschoben und auf dem Boden eine durchsichtige Plastikplane ausgebreitet, auf der ein geschwungener Plastikstuhl steht.
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