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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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sage ich. Vergebung würde ich das nicht nennen.
    Nein? Was ist es denn dann? Wenn man akzeptiert, was jemand getan hat, und es ihm nicht nachträgt, vergibt man ihm doch, oder?
    Um etwas zu vergeben, muss es einen persönlich berühren. Das berührt mich nicht. Deswegen habe ich aufgehört an Gott zu glauben. Wer kann jemanden als Gott verehren, der so narzisstisch ist, dass er jeden Furz als persönlichen Affront auffasst?
    Das meinen Sie doch nicht ernst. Ich weiß genau, dass Sie das nicht ernst meinen. Sie zeigt auf die Statue der Heiligen Rita. Sie haben einen Glauben. Ich habe es selbst gesehen.
    Wie heißen Sie?
    Magdalena. Wissen Sie noch, was ich Ihnen eben erzählt habe?
    Ich tue so, als würde ich angestrengt nachdenken, obwohl ich die Antwort schon kenne. Nein, sage ich schließlich. Ich warte auf die empörten Ausrufe, die Versuche, mir auf die Sprünge zu helfen, die unterschwelligen Vorwürfe. Aber es kommt nichts. Stattdessen Erleichterung. Nein, noch mehr. Befreiung.
    Danke, sagt sie und geht.
    E in Mann ist in meinem Zimmer. Hyperaktiv. Hat irgendwelche Drogen genommen. Pupillen geweitet, zappelig, immer in Bewegung. Fasst meine Sachen an, nimmt sie in die Hand, legt sie wieder weg. Meinen Kamm. Das Foto von dem Mann mit Frau und Sohn und Tochter. Beim Betrachten des Fotos verzieht er das Gesicht und stellt es wieder weg.
    Er trägt eine schwarze Hose, ein gebügeltes blau-weißes Hemd, eine Krawatte. Er wirkt nicht besonders entspannt.
    Anscheinend waren wir mitten in einem Gespräch, aber ich habe den Faden verloren.
    Also habe ich ihr gesagt, es wird Zeit, dass wir einen Waffenstillstand schließen. Schluss mit den Streitereien. Schließlich haben wir uns früher mal sehr nahegestanden. Sie war einverstanden. Auch wenn sie einige Vorbehalte hatte, das habe ich genau gemerkt. Immer auf der Hut. Immer vorsichtig.
    Wovon redest du?, frage ich. Beunruhigt beobachte ich, wie er mit dem Finger an meinem Renoir entlangfährt, wie sein Finger dem roten Hut der jungen Frau gefährlich nahe kommt.
    Ach, nichts. Ich plappere nur so vor mich hin. Jetzt bist du dran. Erzähl mir was. Er macht die oberste Schublade meines Schreibtischs auf und zu, zieht sie raus, schiebt sie wieder rein, raus, rein.
    Was zum Beispiel? Seine Bewegungen machen mich ganz schwindlig. Jetzt läuft er wieder herum, nimmt einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand, betrachtet jeden mit großem Interesse.
    Vor allem meine Gemälde scheinen ihn zu faszinieren. Erst steht er vor dem Renoir, dann vor dem Calder, geht von links nach rechts, dann in die Mitte, wo meine Theotokos mit den drei Händen über dem Türrahmen glänzt.
    Es gibt irgendeine Verbindung, irgendetwas zwischen diesem Mann und dem Kunstwerk. Geschichte.
    Erzähl mir, was du heute gemacht hast. Er setzt sich kurz auf den Stuhl neben meinem Bett, dann springt er wieder auf und läuft im Zimmer herum.
    Es fällt mir leichter, dir zu erzählen, was vor fünfzig Jahren passiert ist, sage ich. Ich klettere mühsam aus dem Bett, halte mich an den Gitterstäben fest. Ich ziehe mir meinen Morgenrock über, um wenigstens den Anschein von Anstand zu wahren, und setze mich auf den Stuhl, von dem er gerade aufgestanden ist.
    Okay, schieß los. Etwas, das ich noch nicht weiß.
    Wer warst du noch mal?
    Mark. Dein Sohn. Dein Lieblingssohn.
    Mein Lieblingssohn?
    Das war ein Scherz. Es gibt nicht viele Rivalen, die mir die Ehre streitig machen.
    Du erinnerst mich an jemanden, den ich kenne.
    Freut mich.
    An einen jungen Mann, der im Studentenheim an der Northwestern wohnt. Dunkel wie du. Rastlos wie du.
    Der Mann bleibt stehen. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit. Erzähl mir mehr von ihm, sagt er.
    Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ein Frauenheld. Und ein ziemlicher Quälgeist. Stand dauernd bei mir vor der Tür und wollte, dass ich meine Bücher weglegte und mich mit ihm amüsieren ging.
    Was du bestimmt nicht getan hast, wie ich dich kenne. War das während deines Medizinstudiums?
    Nein. Vorher. Als ich noch eine Expertin für mittelalterliche Geschichte werden wollte. Ich muss über meine eigenen Worte lächeln. Es klingt alles so verrückt.
    Was hat eigentlich zu deinem Sinneswandel geführt? Der Mann steht an den Türrahmen gelehnt, seine Finger trommeln auf seine Brust.
    Meine Doktorarbeit. Der Streit, der im Mittelalter unter der Ärzteschaft darüber

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