Ich darf nicht vergessen
Weg in die Autonomie, jeder auf seine Weise.
Eine Hand berührt meinen Ellbogen.
He, junge Frau! Eine Männerstimme. Sein Lächeln ist ziemlich angenehm, aber sein rechter Gesichtsquadrant wird von einem auberginefarbenen Hämangiom verunstaltet. Nicht operierbar.
I ch bin gerade mit den letzten Bissen meines Mittagessens beschäftigt, als jemand den Stuhl neben mir unter dem Tisch herauszieht und sich schwer daraufsinken lässt. Ein Gesicht, das ich wiedererkenne, aber heute bin ich in einer Trotzphase. Ich werde nicht fragen. Ich werde es nicht tun. Diese Frau scheint das zu verstehen.
Detective Luton, sagt sie. Ich bin nur auf einen Sprung vorbeigekommen.
Ich werde es ihr nicht leichtmachen. Ich nehme meine Serviette von meinem SchoÃ, falte sie und lege sie auf meinen leeren Teller. Schiebe meinen Stuhl zurück, um aufzustehen.
Nein, warten Sie. Ich bin gleich wieder weg. Bleiben Sie doch einen Moment bei mir sitzen. Ein junger Mann im Pflegerkittel nähert sich und bietet ihr Kaffee an. Sie nickt. Er stellt eine Tasse vor sie hin und schenkt ihr ein. Sie hebt die Tasse an die Lippen und trinkt in groÃen Schlucken, als wäre es Wasser.
Ich war eigentlich woandershin unterwegs. Meine jährliche Pilgerfahrt. Und auf einmal war ich auf dem Weg hierher. Ein plötzlicher Drang. Früher ist mir das öfter passiert. Da war ich noch spontaner. Sie lächelt. Einer der Nachteile, wenn man älter wird.
Ich nicke. Ich verstehe nicht, wovon sie redet, aber meine Ungehaltenheit verebbt. Die Frau leidet. Ein Zustand, den ich sehr wohl erkennen kann.
Wie geht es Ihnen heute?, fragt die Frau.
Anscheinend haben wir einen Schritt rückwärts gemacht, sage ich. Von Wörtern mit Bedeutung zu sinnlosen Floskeln.
Anstatt über meine Unhöflichkeit empört zu sein, wirkt die Frau erfreut.
Ah, Sie sind gut in Form heute! Das gefällt mir.
Warum sind Sie also hier?, frage ich.
Wie gesagt, ich befand mich auf einer Pilgerfahrt. Man könnte sagen, dass dieser Besuch ein Teil davon ist.
Inwiefern?
Ich war auf dem Weg zum Friedhof.
Jemand, den ich gekannt habe?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt keine Verbindung zwischen Ihnen und mir. Unsere Beziehung ist ⦠rein beruflicher Natur. Mit einer Geste gibt sie zu verstehen, dass sie noch mehr Kaffee möchte. Na ja, hauptsächlich.
Sind Sie meine Ãrztin?
Nein, nein. Ich bin von der Polizei. Ich bin Kriminalpolizistin.
Sie betrachtet ihre Hände, die sie fest um ihre Tasse gelegt hat. Sekunden vergehen. Jetzt bin ich nicht mehr ungehalten oder ungeduldig, sondern neugierig. Also warte ich.
SchlieÃlich spricht sie. Ganz langsam.
Meine Lebensgefährtin hatte Alzheimer. Sie war noch ziemlich jung, als es anfing. Viel jünger als Sie â erst fünfundvierzig.
Es fällt mir schwer, ihr zu folgen. Aber ich spüre, wie aufgewühlt sie ist, und nicke.
Die Leute stellen sich das so vor, dass man einfach seine Autoschlüssel verlegt, sagt sie. Oder die Bedeutung von Wörtern vergisst. Aber das Schlimmste sind die Veränderungen der Persönlichkeit. Die Stimmungsschwankungen. Die Feindseligkeit oder gar Gewalttätigkeit. Selbst wenn der Betroffene vorher der sanfteste Mensch der Welt war. Man verliert den Menschen, den man liebt. Und schlieÃlich ist nur noch die Hülle übrig.
Sie schweigt einen Moment lang. Wissen Sie, wovon ich rede?
Ich nicke. Meine Mutter.
Die Frau nickt auch. Und dann soll man diesen Menschen immer noch lieben, auch wenn er längst nicht mehr da ist. Man soll loyal sein. Es ist nicht einmal so, dass andere das von einem erwarten. Nein, man erwartet es von sich selbst. Und gleichzeitig sehnt man sich danach, dass es bald vorbei ist.
Sie nimmt mein Handgelenk und hebt meinen Arm vorsichtig ein bisschen hoch. Ein erbärmlicher Anblick. Kein Muskeltonus, so dünn und vertrocknet wie ein Hühnerbein. Wir betrachten beide meinen Arm, dann legt sie ihn genauso sanft wieder auf meinen SchoÃ.
Es hat mir das Herz gebrochen, sagt sie. Und irgendwie brechen Sie mir jetzt wieder das Herz. Eine Weile sitzt sie schweigend da.
Dann ist sie weg, genauso plötzlich, wie sie gekommen ist.
E ine dunkle Nacht. Gestalten treten aus den Schatten und verschwinden dann gerade so weit, dass ich sie nicht mehr sehen kann. Eine sehr dunkle Nacht, und ich muss aufstehen, muss mich bewegen, aber ich bin gefesselt, meine Arme und Beine sind am Bett festgebunden.
Ich ziehe
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