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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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nicht trauen.«
    Dies war eine Unwahrheit. Aber ich ließ es dabei. Ich erhoffte nichts und freute mich auf nichts mehr. Ich las die Zeitungen mit den furchtbaren Nachrichten, als blätterte ich in einem Lexikon, das eine mir unbekannte Sprache, etwa Chinesisch, in eine andere unbekannte, etwa Japanisch, übersetzte. Es waren Worte, Klänge, Schnarren, Vokale und Hauch. Meine Seele war nicht dabei.
    Auch meine Kinder waren mir bereits etwas fremd. Hätte ich sie doch nur kürzlich in S. sehen können! Ihre Briefe kamen, ich öffnete sie nicht und überließ sie meiner Frau, die sie mit Angst und Leidenschaft an sich riß und sie zehnmal überlas. Ich fragte nicht, was darin gestanden hatte. Ich nahm meine Sprachstudien wieder auf, ich wollte einigermaßen Französisch sprechen, wenn ich nach Paris kam. Meine Frau beherrschte diese Sprache ganz gut. Wir unterhielten uns jetzt französisch. Und genau wie vor Jahren bei Angelika entfremdete uns diese Unterhaltung in einer fremden Sprache mehr als alles andere bisher. Ich merkte es mit stummer Freude. Ich machte Fortschritte. Ich hörte auf zu lieben und begann fließend zu sprechen.
     
    Wir kamen Ende März nach Paris und quartierten uns in einem kleinen Hotel am Montmartre ein. Es hielt mich nicht zu Hause. Ich trieb mich die ersten Wochen von früh bis spätabends in den Straßen umher. Aber ich sah nichts. Ich war für alles blind, außer für den einen Gedanken, Frieden zu finden . Aber wie konnte ich Frieden finden, wenn ich so ungeheuer haßte, wenn ich immer einsamer wurde, wenn alles an mir abglitt, wenn ich keine Tätigkeit hatte? Es ist etwas Schweres für einen erwachsenen Menschen, ohne Arbeit zu leben, selbst dann, wenn für seine Nahrung gesorgt ist. Meine Frau, die jetzt sehr selbständig geworden war, hatte eine mäßige Summe aus Basel mitgenommen. Nach einer gewissen Zeit schien es mir, sie müsse sich dem Ende nähern, und so sehr es mir widerstrebte, mit meiner Frau das Geld abzurechnen, schlug ich es dennoch vor. Meine Frau lächelte, zeigte alle ihre schönen Zähne und streichelte ein kleines noch feuchtes Veilchenbukett, das sie im Ausschnitt ihres hellen Sommerkleides trug. Sie schien sich keine Geldsorgen zu machen.
    Ihre Stimmung wechselte. Sie ertrug es manchmal, drei Tage ohne Nachricht von den Kindern zu sein, ohne laut zu klagen und sich zu ängstigen, aber sie beherrschte sich besser als ich. Wir beide haßten das neue Reich. Aber sie haßte es, weil es den Juden dort fürchterlich erging, und ich haßte es, weil es mein Volk zu einem Volk hündisch gehorchender Sklaven gemacht hatte, die sich in der Knechtseligkeit wohl befanden. Im Grunde hätten wir uns in unserem Haß verständigen, wir hätten wieder zueinander finden, uns stützen, das Leben erleichtern können aber wir wurden einander fremder mit jedem Tag, und manchmal glaubte ich, meine Frau begann den Nichtjuden in mir zu hassen und ihre Ehe zu bereuen. Ich habe ihr dies nicht mit Gleichem vergolten. Ich sah fort, wenn mich einer ihrer kalten, alles durchbohrenden grünblauen Blicke treffen wollte. Ich sage es noch einmal, ich wollte nur Frieden.
    Bald sah ich ein, ohne regelmäßige Tätigkeit würde ich ihn nie finden. Was sollte ich beginnen? Ich konnte daran denken, wieder Arzt zu sein. Aber die Gesetze des Landes, dem ich für die Gastfreundschaft dankbar sein mußte, verboten es, die einheimischen Ärzte taten sich zusammen und brachten ein Gesetz gegen die zugewanderten Ärzte fremder Nationalität ein. Wir durften nicht einmal an den Studien teilnehmen. Von Ausnahmefällen abgesehen, mußten wir vergessen, was wir gewesen waren.
    Vielleicht hätte sich aber doch hier und da eine Gelegenheit geboten. Aber mir widerstrebte jetzt dieser Beruf. Ich konnte kein Blut sehen, die nackte Haut, die mich an die Marterszenen im Konzentrationslager erinnerte, ekelte mich an, und ich sage es ganz offen, es ekelte mich jeder Mensch.
    Ich erfuhr, im Institut Pasteur würden Ärzte gesucht. Hier handelte es sich um große wissenschaftliche Untersuchungen, Bazillenzüchtungen, Tierversuche, um entweder rein wissenschaftliche Fragen zu klären oder um neue Heilmittel zu finden. Ich ging bis zum Tor des Instituts, ich dachte, vielleicht würde ich unter der Leitung erfahrener, human gesinnter Gelehrter einen neuen Lebenszweck finden. Aber bevor ich durch das Tor eintrat, brach der alte würgende Ekel in mir empor. Ich begann zu zittern, die Luft ging mir aus, es wurde mir dunkel vor Augen.

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