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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Alles aus Ekel. Nicht aus Schwäche. Ich konnte keinem Tier mehr etwas antun, ich konnte nicht mehr begreifen, daß das Leiden oder der Qualtod eines Tieres nichts bedeute, wenn es sich darum handelte, der reinen Wissenschaft zu dienen oder den Menschen neue Hilfsmittel zur Bekämpfung ihrer Leiden zu bringen. Ich sah in dem Menschenleben nicht mehr wie vor dem Kriege den höchsten Lebenswert. Es war etwas Billiges geworden. Es lohnte nicht.
    Ich sagte mir eines Abends, auch ich sei billig geworden. Es war gleichgültig, ob ich noch ein paar Jahre lebe oder nicht. Und wem machte ich stumme, aber erbitterte Vorwürfe deswegen? Meiner Frau, die mir meinen letzten Glauben an einen Menschen und seine Treue genommen hatte. Wir saßen einander abends in dem größeren der zwei Zimmer stumm gegenüber. Sie hatte ein Schachspiel angeschafft, und wir spielten, scheinbar ruhig, Zug um Zug. Aber selbst in diesem Spiel, in diesem stummen Zusammensein über dem schwarz-weißen Brett, brach er aus der Tiefe durch, und wir spielten mit Haß, erdachten Listen und Tücken, um zu siegen. Niemals haben wir beide so großartig gespielt. Haß macht vielleicht genial. Nachher standen wir mit verzerrten Gesichtern, brennenden Augen, in den verkrampften Händen noch die letzten Figuren haltend, vom Spiel auf, ungern, denn niemand wollte die Niederlage anerkennen, niemand als Besiegter schlafen gehen. Auch hier fand ich den Frieden nicht.
    Ich hörte in den ersten Sommermonaten auf, in den Straßen, Museen und Kirchen umherzustreifen. Es war vergebens, ich hätte ebensogut hinter den elektrisch geladenen Stacheldrähten des Lagers umherirren können. Ich suchte Frieden, aber in den Schönheiten und Kostbarkeiten der Museen fand ich ihn nicht. Ich hatte mich von meiner Frau etwas abgetrennt, wir küßten uns nicht mehr, und bald hörten wir auf, Schach zu spielen. Ich trennte mich von der Zeit, ich versuchte es, indem ich den Verkehr mit anderen Ausgewanderten, Ausgestoßenen, Friedlosen mied. Ich hörte auf, die Zeitung zu lesen. Ich, suchte eine körperliche Arbeit und fand sie mit Mühe. Sie bestand – in Tellerwaschen in einer Emigrantenküche. Es waren nicht mehr die geräumigen, gekachelten Souterrains des ›Prinzregenten von Bayern‹. Die üblen Gerüche, die oft verdorbenen Zutaten, das ranzige Fett, das schlechte Geschirr hätten mich mehr anekeln müssen als alles im ›Prinzregenten von Bayern‹. Aber es war nicht der Fall. Die schwere Arbeit, mittags von 12 bis 3, abends von 7 bis 10, tat mir wohl. Ich freute mich an den paar Francs, die es eintrug, raffte sie gierig an mich und verschwieg meiner Frau, was ich tat und wieviel ich verdiente.
    Nach ein paar Wochen gab ich diese Arbeit auf. Ich konnte die Nähe meiner Leidensgenossen nicht ertragen. Ich wollte Deutschland vergessen, aber nicht immer daran erinnert sein.
    Damals, im Sommer 1934, kam es zur Ermordung des Hauptmanns R. und von ein paar Hundert anderer Männer und auch Frauen. Ohne Anklage, ohne Gericht, ohne Protokoll.
    R. war immer ein starker Mann gewesen. Er war ein kluger Kopf, hatte ein klares Auge. Wie hätte er sich sonst von einem Instruktionsoffizier der bolivianischen Armee im Jahre 1925 zum Herrn von drei Millionen Menschen im Jahre 1934 aufschwingen können, die ihm und dadurch dem obersten Führer blind dienten? Aber er ahnte die Natur H.s so wenig, daß er ihm wie einem Bruder vertraute. Was H. tat, war kein unbeherrschter Wutausbruch. Es war vorbedacht und wurde folgerecht zu Ende geführt. Er hatte sich mit Energie angereichert, er war kalt, berechnend, überlegen gewesen. Er liebte nicht. Er hat nie geliebt. Daher verlor er nie die Übermacht. Er war ein Spartaner. Blut war ihm wie Wasser.
    Was er in R. und dessen Kreis haßte und fürchtete, ist nie ganz klargeworden. Sie waren zuviel auf der Welt, das allein steht fest. H. mußte allein sein. H. war eines Nachts zu Hauptmann R. gekommen, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, ihn verhaftet, angespien, beschimpft, in Ketten gelegt. Man riß ihm und seinen jungen Freunden die Schulterstücke von der Uniform. Der Führer soll den Adjutanten des Stabschefs, einen Grafen Spr., mit seiner berühmten Peitsche verprügelt haben. R. wurde einer Gnade gewürdigt, die ich aus dem Lager wohl kannte, durch Selbstmord zu enden. Unseresgleichen hatte man eine ›Rebschnur‹ auf die Pritsche der Baracke geworfen und auf einen starken Nagel hingewiesen, bevor man die Tür hinter sich schloß. R. war ein großer

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