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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Soldat, deshalb durfte er ›durch eine ehrliche Kugel‹ enden. Man gab ihm lächelnd einen schweren Revolver. Er lehnte ab. Nicht aus Feigheit. R. war einer der beherztesten Menschen seiner Zeit. Sondern aus hündischer Liebe zu H. Er flehte ihn an, er möge ihn eigenhändig erschießen. Aber das konnte H. nicht tun. Er ist ein sanfter Mensch. Er vergießt niemals Blut. Er verließ R.s Zelle und sagte ein paar SS-Leuten, sie möchten das Notwendige veranlassen. Ich las kalt diese Nachrichten. Ich hatte R. gekannt. Geliebt oder geachtet habe ich ihn nie. Vielleicht habe ich ihn gefürchtet, und das hat mich angezogen – wie ... Er und ich haben kaum jemals miteinander gesprochen. Was war ich ihm, was war er mir? Aber H., ihm war er viel, und für R. war H. schlechthin der Gott auf Erden.
    R. und die Seinen waren nicht die einzigen, die gefallen sind. Eine Woche später zählte H. in einer großen Rede 77 auf. Es können auch 270 oder 870 gewesen sein. Schließlich hat man sich auf 370 geeinigt. Man siebte nicht lange. Das Menschenleben war seit dem Krieg außer Kurs. Es mögen auch weniger Schuldige oder sogar völlig Unschuldige darunter gewesen sein, das gab H. zu.
    ›Eine Anzahl von Gewalttaten, die mit dieser Aktion in keinem Zusammenhang stehen, werden den normalen Gerichten zur Aburteilung überwiesen.‹ Lüge, Phantasie. Man hat später niemals von einer solchen Tätigkeit des normalen Gerichtes gehört. Tot war tot.
    Hatten die drei Millionen SA-Männer gemeutert, und hat man, um die Meuterei zu brechen, 370 geopfert? H. stellte sich dem Urteil seines Landes und hielt eine Rede: ›Meutereien bricht man nach ewig gleichen Gesetzen. In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation, und damit war des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr in diesen 24 Stunden ich selbst.‹ Aber war R., der Treueste der Treuen, ein Meuterer? War er nicht in aller Ruhe seinen Freuden des Daseins, wie er sie verstand, hingegeben gewesen, hatte man ihn nicht aus dem Schlafe geweckt? Schläft ein Meuterer so tief? Ein den Freund verratender Judas, klammert er sich so an den Heiland und will den Tod nur von seiner Hand? Aber bei dieser Anklage ließ es der Abgott des deutschen Volkes nicht bewenden. H. verriet die, die ihm gedient hatten, die er selbst zu mächtigen Unterfeldherrn, zu Subdiktatoren gemacht hatte, denen er die größte Autorität und Verantwortung anvertraut hatte. Zornflammend schrie er etwas von Sittenverderbnis und Korruption, ihr Leben sei so schlecht geworden. Er nannte sie Verschwörer, Hetzer, warf ihnen den Luxus vor, den sie ›mit den Groschen unserer ärmsten Mitbürger trieben, er hielt ihnen ihre Männerliebe vor, von der er seit vielen Jahren wußte: ›Ich will Männer als SA-Führer sehen und keine lächerlichen Affen.‹ Er zog den französischen Botschafter hinein. Als dieser sich gegen die Lüge wehrte, tat H., als sei nichts geschehen, war nett, und es wurde nie wieder davon gesprochen. Man hatte gemordet, und man hatte nicht einmal den Schein eines gerichtlichen Verfahrens aufrechterhalten.
    Man hatte den General von Schleicher, den früheren Reichskanzler, ermordet. Vielleicht fürchtete man, er sei im Besitz von Akten aus H.s Kriegszeit. Man ermordete auch seine Frau, die sicherlich keine Akten besaß, man ermordete den alten bayerischen Exminister von Kahr, um sich an ihm für sein Verhalten vor elf Jahren zu rächen, man knallte Menschen an der Kasernenmauer nieder, weil ihr Name genauso lautete wie der eines Beschuldigten.
    Aber nicht das war es, was mich bis zum Ersticken empörte. Der uralte Reichspräsident telegrafierte: ›Aus den mir erstatteten Berichten sehe ich, daß Sie durch Ihr entschlossenes Zugreifen und die tapfere Einsetzung Ihrer eigenen Person alle hochverräterischen Umtriebe im Keim erstickt haben. Hierdurch spreche ich Ihnen meinen tief empfundenen Dank und meine aufrichtige Anerkennung aus.‹ Ein protestantischer Bischof sagte, es sei die Pflicht aller Deutschen, im Gottesdienst dem Herrn für diese Errettung zu danken ... ›Wir wollen alle fürbittend hinter ihm stehen, daß Gott ihn weiter behüte und zu seinem großen Werk Kraft und Gelingen schenke.‹ Das Fürchterlichste war für mich, zu sehen, wie er erst jetzt wirklich geliebt wurde, seitdem alles ›deutsche Blut‹ vor ihm zitterte, wollüstig hingegeben.
    Er hatte alle Deutschen zu Angelikas gemacht. Niemand widersprach. Niemand von den vielen, die noch dazu imstande

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