Ich - der Augenzeuge
ersten Zeit, wo ich ›eingebildetermaßen‹ geraucht hatte, nämlich leer.
Die Nachrichten aus dem Sanatorium waren günstig. Wenn ich als erster daheim anlangte, öffnete ich ihre Briefe, mein Vater sollte dasselbe tun. Er sagte, er sei jetzt sehr beschäftigt, indessen nahm er keine Arbeit nach Hause mit, er blieb bis in die Nacht und nach einiger Zeit sogar über Nacht fort, erschien auch mittags nicht mehr ganz regelmäßig, und es kam vor, daß sich die Briefe meiner Mutter auf dem Tisch neben seinem leeren Teller anhäuften.
An einem wolkenlosen, schon schwülen Abend im Mai, als ich selbst mit meiner Arbeit früher und besser fertig geworden war, als ich gedacht hatte, ging ich in den Park der ›Au‹ an meiner alten Schule vorbei. Man hatte in den letzten Jahren hier viel gebaut, von den Pferden war nichts mehr zu sehen, die Kavalleriekaserne war in eine weit entfernte Vorstadt verlegt worden, und in der alten Kaserne waren Pioniere. Ich ging ziemlich gedankenlos durch den Park, tief den aromatischen Duft des blühenden Faulbaums einatmend, als ich in einer ziemlich schattigen, abschüssigen Kastanienallee vor mir ein Paar mit einem Kinderwagen erblickte. Die Frau schob ihn mit der rechten Hand, mit dem linken Arm war sie in einen Herrn eingehängt, der von hinten meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Da ich mir durchaus nicht vorstellen konnte, er sei es wirklich, ging ich ihnen rasch nach. Ich erschrak furchtbar, als ich in dem Herrn meinen Vater, in der Dame mit dem blauen Straußenfederhut und den weißen Handschuhen an den dicken Händen unsere frühere Magd Vroni erkannte.
Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich, ›das Zermalmende‹, das ich schon lange nicht mehr gekannt hatte, durchdrang mich. Auch die beiden waren so überrascht, daß sie stehenblieben, der Kinderwagen, mit zwei schlafenden, kleinen, gleichaltrigen Kindern besetzt, rollte ein kleines Stück weiter, weil Vroni ihn losgelassen hatte und der Weg etwas abschüssig war. Ich war es, der ihn anhielt. Ich beugte mich, um meine Verwirrung zu verbergen, über den Wagen, aus dem der eigentümlich süßliche Duft aufstieg, wie ihn kleine kerngesunde Säuglinge um sich haben. Ich konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Ich erkannte deutlich die Züge meines Vaters in ihnen wieder.
Mein Vater trat zu mir, er führte vorsichtig den neuen, gut gefederten, sich wiegenden Wagen zu der Vroni zurück. Jetzt sah er mir forschend unter den Hut und war sehr freudig überrascht von dem, was er in meinem Gesicht las – und was ich eben zu meinem Entzücken empfand.
Statt ihn und die treulose Magd zu hassen, statt diese zwei unehelichen Kinder als Schande zu empfinden, statt an dem Unrecht zu leiden, das in dem Betruge an meiner kranken Mutter lag, haßte ich nicht, empfand keine Schande und litt nicht. Und doch entsann ich mich deutlich, daß die Sanatoriumsidee nur scheinbar von meiner Mutter ausgegangen war. In Wirklichkeit aber hatte er sich das von ihr, der Armen, abbitten und danken lassen, was in seinem Vorteil lag.
Statt allem Bedrückenden empfand ich eine so helle und gottvolle Freude wie fast nie. Mir war wohl, wie seit langen Zeiten nicht mehr. Mein Vater verstand es sofort. Er streichelte zuerst das links liegend Kind, welchem reiche, aschblonde Locken tief in die Stirn fielen, mit seinem Zeigefinger an dem schmalen, mit einem goldnen Kettchen geschmückten Hals und nannte mir den Namen, Finchen, dann das andere, das ihr zum Verwechseln ähnlich war, dessen Haare aber unter einem hellblauen Samtmützchen versteckt waren, Max. Es waren meine Geschwister. Ich hatte also Geschwister, das, was ich mir immer gewünscht hatte. Ich war der älteste von uns dreien !
Mein Vater wurde jetzt ganz offen (so schien es mir wenigstens), Vroni blieb verlegen, sie wußte nicht, wie sie mich ansprechen sollte. »Junger Herr« war offenbar nicht das Rechte, und sie bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen. Ich sagte ihr, sie solle mich beim Vornamen nennen. Sie ließen mich nicht mehr los. Ich mußte, statt in unsere einsame Wohnung zurückzukehren, in ihre Behausung, die mich nicht wenig entzückte, sie war mit den modernsten und schönsten Möbeln ausgestattet, die er selbst entworfen hatte, und besonders das Kinderzimmer in Hellgelb und Hellblau war bezaubernd. Ich konnte mich fast nicht von ihnen losreißen. Endlich kehrte ich heim. Er blieb bei ihnen. Ich war so müde, daß ich den eben gekommenen Brief meiner Mutter nur mit Mühe entzifferte.
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