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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Auch sie war glücklich. Es ging ihr gut.
    Die Reifeprüfungen fanden in diesem Jahre besonders früh statt, ich bestand die meine schon Ende Juni. Ich wollte sofort das günstige Ergebnis meiner Mutter in einem von mir und meinem Vater gemeinsam verfaßten Brief mitteilen. Er brachte mich dazu, diesen Brief nicht abzuschicken und meine Mutter im Glauben zu lassen, die Prüfung finde erst viel später statt. Dann käme sie (zu ihrem eignen Vorteil) auch später aus dem Sanatorium zurück, denn wir wollten uns zu den Ferien in S. treffen. Ich willigte ein. Obwohl dies ein stillschweigender Betrug war, hatte ich kein Gewissen.
    Mein Vater war glücklich, ihm gelang alles. Es machte mir Freude, ihm bei der Fortführung seines angenehmen Lebens behilflich zu sein.
    Ich habe noch einen zweiten, vielleicht eher verzeihbaren Fehler begangen. Meine Mutter hatte mir vor Jahren zum Namenstag ein Paar silberne Kerzenleuchter geschenkt, damit ich mir Licht zum Lesen machen könne, wenn mich nachts die Lust anwandelte. Kurz danach hatte man elektrisches Licht eingeführt, und die Leuchter waren nicht mehr vonnöten. Ich hatte sie in dem ausgedienten Waschtisch untergebracht, der mit einer verschiebbaren Platte geschlossen war und wo ich mein Tagebuch aus Hölzchen aufbewahrte. Nun kam es mir in den Sinn, ich müsse den Zwillingen ein Geschenk machen. Die Leuchter waren ihnen noch weniger nütze als mir. Aber es waren schöne schwere Stücke. Ich würde auf jeden Fall meinem Vater damit eine Freude machen, dachte ich, und brachte die Dinger, in Seidenpapier gewickelt und mit goldenen Schnürchen zusammengebunden, hin. Er freute sich über die Maßen, hieß Vroni Kerzen besorgen, und abends saßen wir bei Kerzenschein an dem Zwillingsbettchen, still, und rauchten vorsichtig, um die Kleinen nicht zum Husten zu reizen. Vroni hatte ihnen zuvor die Brust gegeben und lächelte stolz und doch scheu vor sich hin, uns alle vier betrachtend.
    Einige Tage darauf holte mich mein Vater von unserer Wohnung ab und brachte mich in einem prachtvollen viersitzigen Mietauto, das auf der Straße gewartet hatte, in einen vornehmen, auf einem Hügel gelegenen Vorort, wo jene großen prächtigen Villen, in weite tiefe Parkanlagen eingebettet, sich befanden, wie er einmal eine gezeichnet hatte. Nun war die seine im Bau. Er hätte den Grund und Boden durch ›Freundschaft‹, nämlich durch einen seiner Vorgesetzten im Büro, erworben. Mir wurde bei dieser Gelegenheit zum erstenmal etwas unheimlich zumute. Für wen baute er? Für uns war die Villa viel zu groß, meine Mutter, die am liebsten den Haushalt ganz bescheiden und still führte, hätte sich hier nie wohl gefühlt. Er konnte die Villa doch nicht mit seiner zweiten Familie bewohnen. Er konnte sie ihr nicht einmal vorübergehend anweisen, es wäre zu auffallend gewesen. Oder rechnete er damit, daß ihn der Tod von meiner Mutter befreien würde? Für so unmenschlich konnte ich ihn nicht halten. Er war es auch nicht. Er rechnete in jener Zeit überhaupt nicht mehr. Er rechnete ebensowenig wie ich, der ich doch wissen mußte, meine Mutter in ihrer großen Neugierde würde mein Reifezeugnis genau durchschnüffeln und das richtige Datum herausbekommen, und ebenso würde es ihr früher oder später in den Sinn kommen, zu fragen, wo die Leuchter geblieben seien. Aber ich tat, wozu es mich im Grunde meines Herzens mitten aus der Seele heraus unwiderstehlich trieb. Ich war so ausgehungert nach Frohsinn, nach Gesundheit, nach Lebensmut, nach Übermut, nach einem sorgenlosen Dasein, daß ich meiner Natur entgegen alles Gewissen erstickte und in den Tag hineinlebte wie er. Die Wahrheit wäre für uns beide damals nur nüchtern und grau gewesen, kurze Zeit später wurde sie aber sehr bitter, und die Folgen haben über meine besten Jugendjahre entschieden.
    Mein Vater war seit ein paar Tagen verreist zu einer ›Brückenabnahme‹, und Vroni war mit meinen Geschwistern zu ihren Eltern ins Allgäu gefahren. Da las ich in der Zeitung nur kleingedruckt und auf der vierten Seite, daß in dem Orte, wo mein Vater war, sich ein Unglücksfall ereignet hatte. Eine Eisenbahnbrücke war eingestürzt, glücklicherweise ohne Todesopfer – aber es waren von den am Bau Beschäftigten einer schwer und vier oder fünf leicht verletzt worden. Das Zermalmende kam wieder über mich. Ich sah meinen Vater vor mir, unter den Trümmern auf dem Gesicht liegend, schwer verletzt, unter grauenhaften Schmerzen stöhnend, die Brust von

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