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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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nicht?« Ich liebte sie mehr denn je. Aber was geschehen war, war dennoch geschehen. Hätte ich nur lügen können! Hätte ich nur betrügen können! Oder nur auf einer Achsel tragen!
    Meinem Vater gelang es binnen kurzem ohne große Schwierigkeiten, sich mit ihr zu versöhnen, und zwar auf eine Weise, die mich auf sehr lange Zeit von ihr getrennt hat. Vielleicht mit Unrecht. Vielleicht handelte er in einer Art Notwehr. Das Unglück macht den Menschen gemein. Die Dankbarkeit verpflichtet zur Niedertracht.
    Die Sache war die, daß sowohl der Judenkaiser als auch seine schöne junge Tochter in dieser Zeit, als uns alle Welt auswich, als stänken wir, zu uns gehalten haben. Für sie stanken wir nicht, sie halfen uns sehr. Es war fast kein bares Geld da (so sagte wenigstens meine Mutter, mir mit den Blicken ausweichend). Der Onkel, der durch die Zeitungen alles erfahren hatte, antwortete nicht, das Gehalt war eingestellt worden. Der Zivilprozeß mit den Opfern des Unglücks stand bevor. Der Arzt, der in sehr kleinen Verhältnissen lebte, lieh uns, was er entbehren konnte. Seine Tochter führte uns ein paar Tage die Wirtschaft, da selbst die alte, träge und häßliche Köchin uns den Rücken gekehrt hatte in tugendhafter Entrüstung über ein so ›ausgeschamtes‹ Haus. Mein Vater rechnete so, wie später viele gerechnet haben, und ebenso wie diese mit Erfolg. Er rechnete nicht mit den Tatsachen, sondern mit den Vorurteilen, er log fest drauflos, weil er hoffte, die Lüge würde bei meiner Mutter gut aufgenommen werden, weil sie den Weg zur Einigung bahnte, und er beschuldigte den armen Judenkaiser, dieser hätte ihm, dem bescheidenen Urbayern, rabulistisch und talmudisch geraten, eine gesunde, rassige Familie zu gründen. Er hätte gesagt, er müsse es wissen, an meiner Mutter sei Hopfen und Malz verloren, die Krankheit hätte sie so unleidlich gemacht, und mein Vater solle sich glücklich schätzen, daß er eine ›Bißgurne‹, ein böses, zänkisches Weib, verliere und dafür eine kerngesunde, zur Mutterschaft geeignete Prachtfrau wie Vroni bekomme usw. Kein Wort war wahr. Aber meine Mutter glaubte es. Sie verzieh ihrem Mann. Sie ließ mich fallen. Sie sagte, die Hände ringend, aber immer noch, ohne mir ins Auge zu sehen, ich sei ärger als ein Jude, nämlich ein Judas, der sie, meinen Vater und mich selbst verraten habe – und das sogar ohne Lohn, einfach aus Lust am Verrat, um zu wissen, wie es sei! Und nach dem, was vorgefallen wäre, sei ich ihr Kind nicht mehr.
     
    Ich war still und schämte mich. Auch machte ich mir klar, wie enttäuscht meine Mutter sein mochte, die endlich als eine von ihrem Leiden genesene, wieder lebensfroh gewordene Frau zurückgekehrt war, um daheim alles zusammengebrochen zu finden. Ich liebte sie. Ich ging mit ihr, viel mehr als mit mir. Ich hätte nicht sie verraten, sondern mich selbst.
    Ich predigte mir Geduld. Ich war jung, ich konnte warten. Die Zeit arbeitete für mich, sie renke alles wieder ein, hieß es. Ob ich in ihren Augen noch ihr Sohn war oder nicht, ganz gleich, ich blieb ja doch bei ihr, wir lebten weiter zusammen unter dem gleichen Dach und mußten wieder zueinander finden, dachte ich. Es kam nicht dazu. Ich weiß nicht, ob zu meinem Glück oder nicht.
    Mein Vater überstand seine Erniedrigung viel leichter, als ich gedacht hatte, er fand in Kürze neue Bekannte (Freunde konnte man sie nicht nennen), außerdem dachte er allen Ernstes daran, sich in S. dauernd niederzulassen, und glaubte, bis dorthin wäre die Kunde seines Prozesses und seiner Vroni nicht gedrungen, oder die Einheimischen faßten solche Dinge praktischer auf.
    Wichtiger war das, was er seine ›bescheidene Finanzlage‹ nannte. Diese war nun mehr als bescheiden. Er hatte seine beträchtlichen Ersparnisse und einen Teil der nicht unbedeutenden Mitgift meiner Mutter in den Neubau gesteckt. (Meine Eltern erzählten aber überall laut, es sei ihnen überhaupt nichts mehr geblieben.) Er hatte bei einem Immobilienmakler Wechsel hinterlegt und betrachtete es schon als ein großes Glück, wenn sie so lange gestundet wurden, bis der wertvolle Grund und Boden auf dem Herzogshügel verkauft war. Seine Einnahmen waren gleich Null. Er hatte Schulden, vor allem bei dem Doktor Kaiser. Er schrieb ihm einen eiskalten geschäftlichen Brief, der mit den Worten endete (ich habe Sie mit Scham und Schmerz gelesen), er hoffe, er werde in Doktor Kaiser keinen zweiten fremdblütigen Shylock finden, der mit dem Schein in der

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