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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Quadern und Traversen zerschmettert, und ich mußte mir mit Gewalt klarmachen, daß er als Oberingenieur nicht unter den ›am Bau Beschäftigten‹ gemeint sein konnte. Ich eilte zum Postamt, telegrafierte und bekam in zwei Stunden die Nachricht, ihm sei nichts geschehen, und ich solle ihn am Bahnhof erwarten. Er kam, sehr bleich, und wehrte wortkarg meine Umarmung ab. Von dem Bahnhofs-Postamt telegrafierte er seiner Vroni. Offenbar wollte er sie beruhigen. Ich bestürmte ihn mit Fragen. Er wurde finster, beherrschte sich aber, setzte sein altes bescheidenes Lächeln auf und vertröstete mich auf den nächsten Tag. Am nächsten Tag traf meine Mutter ein, er wußte es so einzurichten, daß sie nichts erfuhr, wenigstens nicht durch ihn oder mich, dem er das Ehrenwort abgenommen hatte zu schweigen.
    Bald erfuhren wir die ganze Wahrheit durch die Zeitung. Die Brücke mußte wie alle amtlichen Bauten durch eine Kommission abgenommen werden. Sie wurde zur Probe durch zwei Eisenbahnzüge belastet, deren Waggons hoch mit Steinen beladen waren. Diesmal hatte sich unglücklicherweise ein Bogen als nicht tragfest erwiesen. Fahrlässigkeit und persönliches Verschulden? Aber es konnte auch ein Materialfehler oder das Verschulden eines Bauführers sein.
    Mein Vater wurde als verantwortlicher Ingenieur von seiner Stellung sofort suspendiert, eine genaue Untersuchung kam in Gang. Er tat daheim so, als wäre nichts geschehen, wir bekamen ihn aber bald kaum mehr zu Gesicht, er ging morgens sehr früh fort und kam abends sehr spät heim. Er war sehr bedrückt, und seine Selbstbeherrschung reichte eben doch nicht aus. Ich wagte die Zeitung nicht zu öffnen aus Angst, Schreckliches zu erfahren. Es wurde uns deshalb doch nicht erspart. Man hatte die Papiere meines Vaters im Büro durchsucht, die Rechnungen und Belege nachgeprüft und herausgefunden, daß sein unmittelbarer Vorgesetzter und er von einer Lieferungsfirma bedeutende Beträge bekommen hatten. Das von ihnen bestellte Material sollte minderwertig, die Traversen sollten zu schwach gewesen sein.
    Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, die Anklage lautete auf fahrlässige Körperverletzung, aktive und passive Bestechung, passiv, weil sie selbst Geld genommen, aktiv, weil sie einen kleinen Teil der ›Schmiergelder‹ an Untergebene, unter anderem an den Unterbauführer, in dessen Rayon das Unglück geschehen war, weitergeleitet hatten. Dabei war es noch glücklich abgelaufen, es hätte ein viel größeres Unglück passieren können, wenn man die Belastungsprobe nicht so systematisch vorgenommen hätte und wenn die Brücke etwa unter einem fahrenden Personenzuge zusammengestürzt wäre.
    In dieser Zeit sah ich, welche gefaßte, in ihrem Innern unerschütterliche Frau meine Mutter geworden war. Sie wollte mich und sich selbst vor der Schande des Prozesses bewahren, den sie als verloren ansah, bevor er begonnen hatte. Mit Recht. Sie schrieb ihrem Onkel, ob er uns nicht für eine vorübergehende Zeit aufnehmen könne. Der Onkel ließ sich mit der Antwort Zeit. Endlich kam sie aber und war zustimmend. Wir packten in Eile, aber vorher brach noch der Rest des Unheils über uns, nämlich meine Mutter und mich, herein. Zum Glück war ihre Gesundheit jetzt so gefestigt, daß sie alles ertrug. Sie war etwas ›stark‹ geworden, wie man sagt, ihre Augen erschienen jetzt viel kleiner als früher zwischen den lederartig festen, glatten, von der Sonne gebräunten Wangen, und es schien mir, als habe sie jetzt weniger graue Haare als früher.
     
    Ich dachte, nun sei das Allerschwerste überstanden, aber ich irrte mich. Ich sah nicht, was ich dank der klaren Vernunft hätte sehen können.
    Mein Vater hatte mir einmal zart angedeutet, seine Vroni sei sehr begehrt. So hätte unter anderen Bewerbern sein Vorgesetzter im Büro, der Direktor, der ihm bei der Erwerbung der Villa behilflich gewesen war, ihr vorn und hinten schöne Augen gemacht, sei aber damit ›mit eiskaltem Hintern abgefahren‹. Ich hatte dies nicht recht verstehen können. Denn Vroni, deren erster Jugendreiz im Verblühen war und welche sich, nicht immer mit Erfolg, bemühte, ›noble‹ Manieren anzunehmen, mit spitzen Fingern zu essen und ›gebüldet‹ zu reden, war mir keineswegs so begehrenswert erschienen. Vielleicht kam ich zu dieser Geringschätzung, weil ich meine eigenen Versuchungen oft dadurch bekämpft und besiegt hatte, daß ich in gewissen, leicht zugänglichen Frauen nichts als ein ›unreines Gefäß‹ sah und

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