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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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der Straße zu schleppen, war keine Kunst, ihn aber die enge und gewundene Treppe hinaufzubekommen, war eine große. Das mußte eben auch gelernt sein. Ich eckte zwanzigmal an, meine alte Rippenbruchstelle meldete sich natürlich mit Stichen. Aber ich bekam oben, als ich mir mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn wischte, mein erstes selbstverdientes Geld in die linke Hand hinein, ein frischgeprägtes Silbermarkl. Die gutmütige Frau steckte mir außerdem ein altes, schwärzliches, silbernes dünnes ›Fuffzgerl‹ zu.
    Ich hatte nun doch nicht das Herz, den ›Zuweiser‹ leer ausgehen zu lassen, von dem die Fremden annahmen, er werde von den Zimmervermietern entschädigt, was diese ebenso von den Zugereisten annahmen. Ich spendete ihm also das alte Fuffzgerl, für das er sich vier Maß Bier mit Brot, soviel man will, oder eine Maß und eine schöne Wurst dazu oder aber ein winziges Glas scharfen Enzian anschaffen konnte.
    Ich habe ihn nachher noch oft wiedergesehen, zum letztenmal in der Anatomie.
     
    Eines Tages bot mir das Enzianbrüderl sein rostrotes Büchlein La Rochefoucauld mit allen den wertvollen Adressen für zwei Mark an. Ich hatte eben meine schöne Briefmarkensammlung für 32 Mark verkauft. Das Taschengeld meiner ganzen Jugend war in seltene, meist echte, wertvolle Briefmarken umgesetzt worden, und ich dachte in gutem an Helmut, dem ich diese Idee verdankte, und auch ein wenig an seinen Vater, den ich mit dem meinen verglich.
    Um diese große Summe nach unten abzurunden, fand ich mich zu dem Geschäft bereit. Daheim, beim Schein der Kerze (ohne Leuchter) das Büchlein durchstöbernd, fand ich zwar unendlich viel Wahrheiten, meist bittere, die mir nur schwer einleuchteten, aber es fehlte leider das Blatt mit den Adressen. Ich brauchte die Adressen nicht unbedingt, für das Brüderchen bedeuteten sie das tägliche Brot oder den täglichen Enzian. Er hatte sie von einem anderen ›Kofferschupfer‹ übernommen, der inzwischen nach Italien gepilgert war.
    Ich irrte zwischen den Maximen des alten stoischen und unbestechlichen Franzosen anfangs so ratlos umher, daß ich dachte, die Übersetzung sei ungenau. Plötzlich ging mir der Plan durch den Kopf, meine viele freie Zeit zum Französischlernen an Hand des La Rochefoucauld zu verwenden. Ich ging (zum erstenmal mit Herzklopfen) in die große Stadtbibliothek, ließ mir ein französisches Exemplar und ein französisch-deutsches Lexikon geben und versuchte zu übersetzen. Da mir die Grundformen der Zeitworte unverständlich waren, mußte ich den Bibliotheksbeamten noch einmal bemühen, und zwar um eine Grammatik. Als ich endlich eine kurze Maxime übersetzt hatte, durchströmte mich großer Stolz. Ich sagte mir, wozu sollte ich mein ganzes Leben in Deutschland verbringen? Ich wollte Französisch, dann Englisch, gegebenenfalls auch Italienisch lernen, alles neben dem Studium der Medizin, auf das ich mich schon zu freuen begann. Ich wollte als ›fertiger Doktor‹ in der ganzen Welt, Europa, Afrika, Asien umherziehen, überall zu Hause sein und mir mit Hilfe meiner ärztlichen Kunst mein Brot in irgendeinem Winkel der Welt erwerben. Es war das Ideal des Kosmopolitismus, das mir so schön aufgegangen war.
    Inzwischen ging es schon spät in den Herbst, die Abende wurden lang. Ich fragte in der Universitätskanzlei nach den zu erfüllenden Formalitäten, und man erklärte sie mir genau. ›Man‹ will heißen, der Fuchsmajor einer schlagenden Verbindung, der sich hier aufgepflanzt hatte, um Füchse zu ›keilen‹, das heißt, junge Studenten für seine Verbindung zu gewinnen. Er gab mir alle gewünschten Auskünfte und fügte hinzu, seine Kommilitonen würden sich freuen, wenn ich sie im X-Bräu einmal ungezwungen aufsuchte. Ich gab eine ausweichende Antwort, wußte aber genau, ich würde nie in eine Verbindung eintreten. Ich mochte viele Menschen, in einen Raum zusammengepfercht, nicht besonders, haßte jeden Zwang, das viele Bier widerstand mir, und vor allem hatte ich kein Geld.
    Ich hatte erfahren, daß die Gebühren im ersten Semester an 110 Mark betrugen. Dieses Geld erwartete ich von meinen Eltern. Ich wußte, daß meine Mutter sich eine kleine Reserve (ein Sparkassenbuch) gesichert hatte, und ich wußte ebenso, daß ich ihnen nun auch drei Monate je 75 Mark gegeben hatte. Auf diese hatte ich aber offenbar keinen Anspruch mehr.
    Aber ich dachte, meine Mutter könne mir einen Vorschuß auf die nächsten Monatsraten in Höhe von 110 Mark geben, und

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