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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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nicht größenwahnsinnig machen. War denn ein achtzehnjähriger, unerfahrener, im Grunde nur auf sich selbst angewiesener Mensch – denn von dem braven und armen Judenkaiser konnte ich nichts mehr annehmen, nicht einmal einen Rat –, war denn solch ein Mensch, der das harte Leben nur vom Hörensagen kannte, nicht größenwahnsinnig zu nennen, wenn er im Gefühl, es geschehe drei Menschen, nämlich Vroni und meinen Geschwistern, Unrecht, den letzten Rest seines Geldes diesen Menschen opfert, weil sein Vater, der für diese drei Menschen verantwortlich ist, sich ›bescheiden‹ diesen Verpflichtungen entzieht unter dem Schutz des bürgerlichen Gesetzes, welches die uneheliche Mutter auf den Klageweg verweist und ihr die ›landesüblichen Alimente‹ zusichert? Hatte ich nicht bei dem Italiener gesehen, was dieses Recht in den Händen eines Proletariers bedeutet? Mit den winzigen Alimenten aber mußten die zwei Geschwister und Vroni in größter Dürftigkeit leben, das bewies sie mir mit einem stumpfen Bleistift auf dem Rande einer alten Zeitung, während die Zwillinge im Chor quäkten, lange nicht mehr so blühend und prachtvoll wie noch vor wenigen Wochen. Sie mußten, wenn sie nichts als die Alimente hatten, auseinander, die Kinder in Pflege, die Mutter in Dienst. Ich steuerte also 20 Mark monatlich zu. Niemals hat Vroni geglaubt, sie kämen von mir, der dann bettelarm dastand, sie dachte, mein Vater sei ein ›edler Herr, ein feines Geschirr‹, und er lasse ihr das Geld auf diesem Wege zukommen, damit sie ihm nicht danken solle, damit die Frau Oberingenieur nichts davon erfahre und über seine Großmut murre. Denn seine oder unsere Lage war Vroni klar, und wenn sie nicht stark im Schreiben und Lesen war, im Rechnen war sie es.

Zweiter Teil
    Auch ich lernte allmählich rechnen, weil ich es mußte. Ich lernte rechnen mit der Einsamkeit und mit dem Geld, der Not. Ich war bis dahin immer mit meinen Eltern zusammengewesen und hatte ohne Not dahingelebt. Nun stand ich morgens auf und sagte niemandem guten Morgen, und abends legte ich mich zu Bett und hatte niemandem gute Nacht gesagt.
    Es regnete damals viel. Ich dachte an meine Eltern in ihrem Häuschen in S., wie der Regen ihnen zusetzen, wie er ihnen die Vermietung des Zimmers an einen Touristen erschweren würde, ich konnte mich eben von ihnen noch nicht losreißen, nicht bei Tag noch bei Nacht. Wenn ich nachts durch irgendeinen furchtbaren Traum, in dem entweder das undankbare Pferd oder das Moor eine Rolle spielte, aufgewacht war, horchte ich, im ersten Augenblick meine Lage vergessend, nach dem Nebenzimmer hin, ob ich nicht das Hüsteln meiner Mutter oder das Schnürfeln meines Vaters hörte, ich blieb ihr Kind, ob sie es wollten oder nicht. Das elektrische Licht hatte man abgeschnitten, aber die zwei schönen schweren Leuchter waren noch da, in der Speisekammer fanden sich zwischen Bündeln vertrockneter Zwiebeln und einem dicken Bund alter Schlüssel ein paar Kerzenstümpfe, und ich machte mich ans Schreiben. So sehr drängte es mich, den sonst so Schweigsamen, mit ihnen zu reden. Am nächsten Tage kaufte ich ein ganzes Pfund guter Paraffinkerzen. Das Porto für den dicken Brief betrug zehn Pfennig. Es waren viel Ausgaben auf einmal. Ich glaubte, meine Eltern würden mich zu sich bestellen, sie würden es ohne mich nicht aushalten, gleichviel, was sie sich vorgenommen hatten, ich wollte den Brief also lieber mitbringen und das Geld sparen. Übrigens konnte ich im Ort S. für zehn Pfennig, für fünf Pfennig beim Seewirt oder auch gratis bei Bauern im Heu nächtigen. Aber der erwartete Brief meiner Eltern kam nicht. Ich war zu stolz, um zu betteln. Langsam gewöhnte ich mich an das Alleinsein; schwer, aber doch.
    Mit dem Gelde zu rechnen erwies sich mir als ebenso schwer. Meine Mutter hatte zwar oft geklagt, wie unerschwinglich teuer das Leben geworden sei, ich hatte es aber nie geglaubt. Jetzt erlebte ich es aber am eigenen Leibe. Zuerst hatte ich, weil ich unbedingt unter Menschen sein wollte, mir ein paarmal den Luxus erlaubt, in ein Bräu zu gehen. Ich bin nie ein Trinker gewesen, ich ließ meine ›Maß‹ stehen. Ich wollte nur nicht allein sein. Obwohl solche ›Maß‹ nur 13 Pfennige kostete, mit Trinkgeld 15, und ich bei Einkauf meiner Nahrungsmittel, des Brotes und des durchwachsenen Specks, soviel wie möglich sparte, schmolz meine Barschaft schnell zusammen.
    Ich hätte mich zu Fuß auf den Weg nach S. machen können, aber ich wollte niemandem

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