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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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zur Last fallen. Nachdem ich großmütig mein Stipendium der legitimen und illegitimen Familie zur Verfügung gestellt hatte, konnte ich doch nicht wie ein herumvagierender ›Strabanzer‹ zu Fuß daheim ankommen. Zur Bahnfahrt reichte es aber schon lange nicht mehr, wie ich mich am Hauptbahnhof an der Tariftafel überzeugte.
    Ich kam auf einen anderen Gedanken. Ich besaß ja noch immer die zwei schweren Silberleuchter, nichts hinderte mich, sie zu versetzen. Das hieß noch lange nicht, sie zu verschenken oder zu verkaufen. Es hieß nur, sie für eine gewisse Zeit dem Königlich Bayrischen Pfandamt anzuvertrauen. Ich pilgerte also ruhig hin, stand lange Zeit in elender Luft zwischen armseligen Menschen, die teils ihr Bettzeug oder muffig riechende Sonntagskleider, teils Uhren oder Schmuckstücke ins Versatzamt trugen. Ich erhielt endlich für die zwei Prachtleuchter nicht einen Pfennig über drei Mark. Ich wollte das Geld zuerst empört zurückweisen. Aber der Beamte bewies mir phlegmatisch, daß bloß eine dünne Außenschale, das ›Häuterl‹, aus Silber bestünde und daß das Hauptgewicht auf Blei entfiele, mit dem die zwei Dinger ausgegossen seien. Ich trollte mich also und hörte noch beim Weggehen, daß die hinter mir kommende Partei, die eine schwere ›Tuchendt‹, ein buntes Federbett, versetzt hatte, sich ebenfalls beschwerte. War denn das dicke Bettstück auch mit Blei ausgegossen? Nein, aber es war nicht insektenrein.
    Ich hatte mit mindestens fünfzehn Mark für die Leuchter gerechnet, war aber lange nicht entmutigt. Die ersten Genüsse der Freiheit begannen wieder aufzugehen. Eine große Leichtigkeit des Lebens, das Kommen und Gehen, wohin man will, das Leben und Lebenlassen – die paar unausbleiblichen Schwierigkeiten mit ›stoischer‹ Würde tragen, Gott einen guten Mann sein lassen, dickköpfig und gesund sein, seine ganze Zukunft vor sich haben, das machte mich trotz allem froh.
    Ich ging also durch den Nieselregen zum Hauptbahnhof. Dort hatten die in blauweiß gestreifte weite Kittel gekleideten, meist schnauzbärtigen und rotwangigen dicken Gepäckträger unter den rußgeschwärzten Arkaden ihren Standplatz. Zigarre oder Pfeife im Mund, harrten sie der Reisenden, die angesichts des Hundewetters nur spärlich kamen. Der Arbeitsplatz dieser amtlichen Gepäckträger war der Bahnhof, darüber hinaus trugen sie niemandem den Koffer, sie machten keine ›Kommissionen‹, sie ›wiesen‹ die Fremden nicht in billige Gelegenheitsquartiere usw.
    Dies besorgten allerhand fragwürdige Menschen ohne amtlichen Auftrag, ohne Nummernschilder und ohne weißblaue Kittel. Einer dieser ›wilden Kofferschupfer‹ kam auf mich zu, durch meinen guten Anzug irregeführt, und bot mir an, mir ein schönes Quartier am Osttor für ein ›Markl‹ pro Nacht zu verschaffen. Es war ein ziemlich magerer, blasser, schlenkriger junger Mensch, der stark nach Enzianschnaps roch. Ich sagte ihm, er solle sich nicht auslachen lassen, ich sei kein Fremder, viel eher sei er einer. Dies war denn auch der Fall, er kam (zu Fuß) aus dem Elsaß und wollte nach Budapest, war aber noch nicht recht wanderlustig. Wir kamen ins Gespräch, und ich bezahlte ihm in der Bahnhofswirtschaft dritter Klasse ein Maß oder besser gesagt zwei, denn er trank die meine mit. Als er der Enzianflasche am Büffet einen sehnsüchtigen Blick zuwarf, spendierte ich ihm auch einen Enzian, nahm mir aber vor, dies müsse für lange Zeit mein letzter Leichtsinn sein. Er warf sich den Enzian mit einem Ruck hinten in den Rachen und hustete furchtbar. Er dankte aber nicht besonders herzlich und kehrte mit abgespanntem, noch fahlerem Gesicht in die Ankunftshalle zurück.
    Jetzt wurde er tatsächlich von einer kleinen Karawane Fremder, die mit einer Unzahl von Paketen daherkamen und außerdem zu zweit ungeschickt einen mächtigen Koffer schleppten, angesprochen, er solle den Koffer schupfen und ihnen ›a recht a billiges‹ Quartier weisen. Das letztere vermochte er gut, denn er hatte über fünfzig gute Adressen in einem zerlesenen Reclambuch auf dem letzten weißen Blatt aufgezeichnet. Aber mit dem Schupfen haperte es, er war zu schwach, er war wie aus Papier, zum Umblasen.
    Ich nahm den Koffer ohne Mühe unter seinen schiefen Blicken auf die Schulter, und so pilgerten wir durch die nassen Bahnhofsstraßen alle zusammen in ein ziemlich armseliges Quartier, das ich bisher kaum betreten hatte, obwohl es von unserer Wohnung nicht sehr entfernt war. Den Koffer auf

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