Ich - der Augenzeuge
brauchte man keine Angst zu haben.
Die Schwalben pfiffen metallblaugolden im Abendrot vorbei, die Glocken im Turm läuteten. Ich mietete und zog am gleichen Abend ein.
Ich hatte aus unserer Wohnung einen alten von Motten zerfressenen Schafpelz meines Vaters, Jagdpelz genannt, mitgebracht. Da keine Kissen im Bett waren, legte ich ihn unter meinem Kopf zurecht und schlief gut, später diente er mir in kalten Nächten, um mich zu wärmen, denn der Frost kam nicht allein durch das Fenster, sondern auch von oben, vom Dachgebälk her. Das gebrauchte Wasser konnte ich in die Dachrinne schütten, statt es hinunterzutragen. Auch eine Lampe hatte die Portiersfrau, die das Zimmerchen auf eigene Rechnung vermietete, beigestellt, mich aber beschworen, nur ja vorsichtig zu sein, denn es bestand Feuersgefahr. Ich brannte möglichst wenig Licht, denn die Lampe soff Petroleum wie das Enzianbrüderchen Schnaps.
Endlich kam ein Brief meiner Eltern. Meine Mutter fragte, warum ich nicht schon bei ihnen sei. Die ›Einmagazinierung‹ unserer Sachen, die Auflösung des Haushaltes wäre doch beendet. Sollte ich glauben, daß mich meine Mutter nur deswegen während des ganzen Sommers nach der gut bestandenen Prüfung in der Stadt festgehalten hatte, damit ich den Wächter und dann den Packer abgäbe? Was sollte ich in S.? Sollte ich auf das Studium verzichten? Und was dann? Sollte ich der einzige sein, der die Unterschlagungen und Liebesabenteuer meines Vaters bezahlte? Und hätte sie wenigstens gebeten! Aber sie schrieb kurz und bündig, herrisch und kalt. Sie verlangte mit Dringlichkeit die ›Liste‹. Ich konnte sie ihr schicken. Alles war in die Kisten gepackt worden, den Jagdpelz ausgenommen, und das hatte meine Mutter ausdrücklich so aufgetragen.
Trotzdem liebte ich die arme Frau, ich liebte sie mehr denn je. Ich hatte einige Fotografien von ihr. Ich besah sie jeden Tag und sprach mit den verblaßten altmodischen Konterfeien, als wären sie Bilder einer Seligen, einer Toten. Sie dachte ja auch an mich! Mit großer Bitterkeit hatte sie mir Vorwürfe gemacht, daß ich mich mit anrüchigem Gesindel in der Bahnhofswirtschaft dritter Klasse herumtriebe, übermäßig tränke und rauchte und mir ›fürs ganze Leben schade‹. War das ihr Grund? Ich hatte von den Eltern jeden Monat nur 25 Mark erhalten. Selbst wenn sie annähmen, daß ich mich davon satt essen könnte, was sollte mir dann für Rauchen und Trinken bleiben? Ich hatte, als sie abgereist waren, alle zwei Tage eine Schachtel Zigaretten gekauft. 25 Stück für eine Mark, jetzt kostete die Schachtel mit 75 bloß 50 Pfennig und mußte eine Woche reichen. Es war ein bitteres Kraut. Auch darauf wollte ich verzichten, wenn es sein mußte. Es ist mir schwerer geworden, auf die Zigaretten zu verzichten als auf das warme Essen. Sie schienen nicht zu ahnen, wie ich lebte, und sie konnten es ja auch nicht wissen, da ich ihnen hatte verheimlichen müssen, daß ich von den 25 Mark nicht weniger als 20 an Vroni und meine Geschwister, die ja auch ganz anders leben mußten als früher, abgegeben hatte. Hieß auch das auf beiden Achseln tragen? Aber mein Unglück war es, beide Parteien zu verstehen, Augenzeuge zu bleiben, nicht zu richten und kein Pharisäer zu sein.
Meine Mutter hatte eine lange lebensgefährliche Krankheit hinter sich. Dadurch war sie etwas selbstsüchtig geworden. Mein Vater war nicht mehr der alte. Zu schnell war er von der Höhe des Oberingenieurs und Villenerbauers und Erhalters zweier Familien und vom unbemakelten Mann herabgesunken – ich sage nicht wozu. Er klammerte sich jetzt an meine Muter, und beide klammerten sich an mich, an mein festes Einkommen, meine Zukunft. Und ich, ich wollte mein altes Leben fortsetzen, wollte mich nicht anpassen, wollte den verhältnismäßig großen Betrag meines Onkels für mich und mein Studium verwenden, so wie er es angeordnet hatte. Sie sahen dies nicht ein. Meinem Vater leuchtete allzuviel Gelehrsamkeit nicht ein, das hatte er schon bei seiner Verachtung des Griechischen ausgesprochen. Dabei hatte er sich seine technische Bildung mit viel Entbehrungen erkauft. Auch meiner Mutter war der Beruf des Arztes zuwider – und das, nachdem sie nur den langjährigen Bemühungen der Ärzte ihr bißchen Leben verdankte. Aber sah sie es denn ein? Sie hatte im Sanatorium ein neues Gelübde getan, und das sollte Wunder bewirkt haben. Sie schrieben mir also, ich sollte zu ihnen kommen und ihnen beim Aufbau einer neuen Existenz
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