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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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ich würde diesen Betrag langsam von meinem Wechsel im Laufe des Semesters abzahlen.
    Ich hatte inzwischen etwas besser rechnen gelernt und gesehen, daß ich, wenn ich sparsam lebte, schon mit 50 Mark monatlich auskommen konnte. Ich rechnete dabei 10 Mark für Wohnung, 30 Mark für die Nahrung und weitere 10 Mark für Nebenauslagen. Außerdem hatte ich noch die 5 Mark, erinnerte ich mich, da ja Vroni nicht 25, sondern 20 Mark monatlich von mir bekommen sollte. Ich schrieb dies alles haargenau meiner Mutter. Nicht meinem Vater. Sie hatte mir klargemacht vor ihrer Abreise, daß jeder, der Geld wolle, sich an sie wenden müsse, nicht an den Vater, denn das, was sie in der Tasche hatte oder einbekam, konnte man nicht zur Wiedergutmachung des Schadens bei der Brücke heranziehen.
    Ich schrieb noch einmal, bitteren Herzens ›eingeschrieben›, mit verteuertem Porto, um ganz sicherzugehen. Ich wartete vergebens auf einen Bescheid, bloß die 25 Mark kamen mit einer Postanweisung, bei der sich mein Vater als Oberingenieur im Ruhestand unterschrieb.
    Dafür kamen die Handwerker ins Haus, welche unsere Wohnung für die nächsten Mieter instand setzen wollten, es erschien der Spediteur, der die Möbel auf den Speicher bringen sollte bis zum Winter, denn jetzt sei keine gute Zeit für Auktionen, erzählte er. Ihm hatte meine Mutter geschrieben.
    Einige Tage hatte ich von morgens bis abends damit zu tun, das Einpacken der Möbel, Teppiche, der Kücheneinrichtung, des Geschirrs und der Kleider zu überwachen. Ich half mit und stellte eine genaue Liste auf. Ich wurde dann von den Portiersleuten um die Schlüssel angegangen. Es dränge nicht, sagten sie freundlich. Ich wurde rot vor Scham. Ich mußte die Habseligkeiten, die ich persönlich besaß, zusammenpacken, ich mußte ziehen. Einen alten, aber wetterfesten Koffer hatte ich zurückbehalten neben anderem Zeug.
    Von dem Briefmarkengelde waren mir zum Glück noch an die 20 Mark geblieben, ich hatte in letzter Zeit schon sehr sparsam gelebt. Niemand konnte mir aber verraten, wie ich zu den 110 Mark plus 50 Mark für den ersten Studienmonat kommen sollte, wie ich mein Leben fristen würde, niemand konnte mir eine Wohnung weisen, sobald ich meine verlassen hätte. Sollte ich, was meine Eltern offenbar erwartet hatten, zu Fuß nach S. pilgern? Ich war stark und gesund, ein kräftiger Bart sproßte mir, da mir schon seit langem das Rasieren zu teuer geworden war, über Wangen und Kinn. Aber ich wollte nicht.
    Ich machte mich also auf die Wohnungssuche. Ich kletterte in viele Dachstübchen hinauf, visierte manches lichtlose, vom Geruch der Armut erfüllte Kämmerchen, aber alles war mir zu teuer.
    Ich sagte mir, ich müsse versuchen, mich irgendwo einzuwohnen für eine Miete, die absolut sicher war, also für fünf Mark im Monat. Die üblichen Stübchen kosteten aber 12 bis 14 Mark. Also ins Obdachlosenasyl? Auch daran dachte ich, und in meiner Jugendseligkeit schreckten mich die Vagabunden nicht, auch ihr Ungeziefer nicht, denn es wurde alles dort vor jeder ›Nächtigung‹ entlaust. Aber wie sollte ich dort ungestört arbeiten, und vor allem, war es ein dauernder Aufenthalt für einen Studenten der Medizin?
    Das vom Leben durch und durch gebeutelte Enzianbrüderchen wußte Rat. Er war durchaus gegen das Asyl und gegen verschiedene christliche, mit Frühaufstehen und Gebeten verbundene Männerschlafstätten, hatte aber auf sein ausgerissenes Blatt aus dem La Rochefoucauld ein sehr ›originelles, oberzünftiges Stüberl‹ im schönsten Viertel der Stadt, dem Prachtturm der Hauptkirche gerade gegenüber, aufnotiert. Die Adresse war nicht billig, und ich mußte 2,50 zahlen, damals ein Vermögen für mich. Es sei eine Bodenkammer, geräumig genug für eine ganze Familie, sagte er lachend. Aber man mußte, um ins Stüberl zu kommen, die eiserne Bodentür mit einem pfundschweren Schlüssel öffnen, dann mußte man sich zwischen den käfigartigen Dachbodengelassen voll staubigen Gerümpels durchwinden, bis man zu einer festen Tür mit Vorhängeschloß kam. Es war ein einfenstriger Raum ohne Waschtisch, ohne Lichtanlage, ohne Ofen, ohne Klosettbenutzung. Die Aussicht war prachtvoll. Es war ein glattgehobelter großer Tisch da, ein Bettgestell mit einer dünnen Matratze und einem groben Leintuch. Auf einem Stuhl stand eine Blechkanne und eine Blechwaschschüssel. Für die Kleider waren Haken da. Es gab Platz genug für Koffer und Kisten, seine Habseligkeiten unterzubringen. Vor Dieben

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