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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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behilflich sein. Mein Zimmerchen sei wieder frei, zuletzt habe es eine junge Touristin aus Norddeutschland bewohnt, die ihnen in der kurzen Zeit lieber als eine Tochter geworden sei.
    Ich sollte studieren, gut. Sie nahmen großmütig ihr Wort nicht zurück. Aber nicht sofort. Ich sollte vorerst meinem Vater an die Hand gehen und ihm auf diese Weise den Dank für meine kostspielige Erziehung abstatten. Es handelte sich um die Erzeugung von kleinen Holzhäuschen aus wetterfesten Holzplatten, die er ›schwedische Pavillons‹ nannte. Er wollte die Fabrikation ganz im kleinen beginnen, die Furniere konnte man im Ort sägen und pressen und imprägnieren, es bestand ein Bedürfnis für diese kleinen, ganz genau nach einem ausgeklügelten Modell serienweise fabrizierten Häuschen. Allein in S. könne er sofort über ein Dutzend Bestellungen haben. Ich sollte nur so lange warten, bis alles von selbst lief. Das konnte nach der Schätzung meiner Eltern keinesfalls länger als zwei Jahre dauern, und dann war ich immer erst 20. Mein Onkel brauchte nichts davon zu erfahren. Dieses kleine Opfer, ihn darüber hinwegzutäuschen, einen Fremden, könne ich meinem leiblichen Vater schon bringen, denn die 75 Mark seien unentbehrlich, und 25 Mark Taschengeld müßten mir für Zigaretten genügen.
    Das sah ich ein. Mein Entschluß war augenblicklich gefaßt. Er hieß, auf das Geld verzichten, trotzdem Medizin studieren und Vroni die 20 Mark nicht wieder fortnehmen. Für die Wohnung war gesorgt. Das Essen konnte ich mir durch Gelegenheitsarbeit verdienen. Koffer schupfen oder in einer Hotelküche Teller waschen. Eine solche Arbeit hatte man der noblen Vroni angeboten. Sie war ihr zu schmutzig. Unrecht hatte sie nicht. Aber ich hatte nicht die Wahl wie sie. Auf diese Weise konnte ich zwei bis drei Mark am Tage verdienen. An Stundengeben dachte ich natürlich auch, verwarf aber den Plan. Eine Handarbeit war vorzuziehen.
    Die einzige große Schwierigkeit waren die 110 Mark für die Studiengebühren. Ich trieb mich den ganzen Tag auf der Straße umher und suchte nach einem Ausweg. Schließlich fiel mir ein ganz absonderlicher ein. Ich suchte die Wohnung des Narrenkaisers auf, fragte nach Helmut, von dem ich genau wußte, daß er längst in der Kadettenanstalt von G. war, und als man mir den erwarteten Bescheid gab, bat ich, mit dem Geheimrat sprechen zu dürfen. Er war kürzlich zum Kgl. Bayrischen Geheimrat ernannt worden, und die Feier anläßlich dieser Ehrung war mit seiner fünften Hochzeitsfeier zusammengefallen. Er hatte seit ein paar Monaten eine neue Frau, angeblich ein Wunder von Schönheit. Ich mußte lange warten. Es klingelte des öfteren, und man führte Patienten in das Wartezimmer. Ich war nicht aufgefordert worden, dieses zu betreten, und lauerte in einem Korridor. Nicht in dem Hauptkorridor, sondern in einem anderen, der einem Engpaß glich, denn zu beiden Seiten waren Stöße von verstaubten Büchern und unaufgeschnittenen Broschüren und Zeitschriften aufgestapelt. Ich war plötzlich so müde, daß mir der Gedanke kam, alles gehen zu lassen. Nur das Warten hatte mich müde gemacht, nicht der Widerstand, die Schwierigkeiten. Endlich kam der Geheimrat. Er kannte mich von S. her. Er wußte sofort, daß ich nicht Helmuts wegen gekommen war, und fragte mich, während er eine Zeitschrift aus dem Gerümpel aufnahm und klatschend an seinem schneeweißen Ärztekittel abstaubte: ›Was wollen Sie?‹ Ich entgegnete ihm ohne Förmlichkeiten: »Herr Geheimrat, ich brauche 110 Mark.« Es überraschte ihn, daß ich ohne Verlegenheit, ohne Umschweife sprach. Ich bettelte nicht. Man gibt Bettlern ungern. Den Blick immer noch auf die Seiten der Broschüre gerichtet, forderte er mich stumm, das harte, aus dem Kragen vorspringende Kinn emporreckend, auf, zu reden, ohne sich durch mich in seiner Lektüre stören zu lassen. Ich tat es auch nicht. Ich schwieg. Was gesagt sein mußte, war bereits gesagt. Ich sah genau, daß er mich dauernd beobachtete und daß ihm am Inhalt der Zeitschrift nichts lag. Schließlich gab er nach. Er sprach zwar kein Wort, kramte aber in der Brusttasche seines Kittels und zog aus einem sehr dicken, unordentlichen Geldbündel einen Hundert- und einen Zwanzigmarkschein heraus.
    Er gab mir das Geld, aber nicht die Hand. »Sie müssen das Geld bei mir demnächst abarbeiten«, sagte er, »übrigens lassen Sie sich ein Mittellosigkeitszeugnis geben, dann können Sie gratis studieren.« Er blieb noch im Korridor stehen,

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