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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Hand den gutmütigen Einheimischen das Fleisch vom Leibe schneide. Der Arzt, ein guter Menschenkenner, von dem das erwähnte Wort stammt, daß Dankbarkeit zur Niedertracht verpflichte, tröstete sich über den Verlust des Geldes leichter als über den Verlust unserer Familie. Er hatte sich an uns gewöhnt. Er hätte mich auch nach diesen Ereignissen noch gern als Gast bei sich gesehen. Das konnte aber nicht sein, ich wollte nicht mehr auf beiden Achseln tragen. Er sah es ein. Er war sogar so taktvoll, seine Niederlage, die Selbsttäuschung eines unverbesserlichen Optimisten, seiner Tochter zu verschweigen, und Viktoria kam eines Tages ahnungslos zu uns. Meine Mutter fertigte sie mit höhnischen Worten durch einen Spalt der Tür ab, ohne sie einzulassen. Ich sah sie dann auf der Straße, blutrot vor Scham, aber nicht mit einem gedemütigten, sondern vielmehr mit einem herrischen und bösen Gesichtsausdruck, fortgehen. Auch hier hoffte ich, die Zeit werde alles ausgleichen, und meine Mutter werde ihr Unrecht einmal einsehen und bereuen.
    Mein Vater, dessen Schuld, wenn auch nicht strafrechtlich, so doch für jeden feststand, der ein Gefühl für Recht und Unrecht hatte, half sich sehr schnell mit seinem ›Menschen, Menschen san mir halt alle‹ über das ›Pech‹ hinweg. Als er zur Zahlung einer Rente an den schwerverletzten Arbeiter verurteilt wurde, murrte er über das ›gar zu leicht verdiente‹ Geld des Proleten. Und vier erwachsene pfiffige Menschen, nämlich meine Eltern, die Direktorin und unser Anwalt, ›kauften‹ dem leichenblassen, elend gekleideten, fast sprachunkundigen Italiener, der seinen im Schultergelenk gebrochenen Arm in einem schmutzigen Wasserglasverband trug, die langjährige Rente für ein Butterbrot ab. Indessen, auch dieses Butterbrot mußte bezahlt werden. Meine Mutter verkaufte etwas Schmuck, und sie weinte bitter. Das Weinen war ihr jetzt erlaubt. Ich dachte an die alten Zeiten, wo wir vor der Wallfahrt nach Altötting vor der Auslage des Juweliers gestanden hatten, und daran, wie Jahre nachher, nach dem glücklich verlaufenen ›Operatiönchen‹, mein Vater ihr das Schmuckstück mit dem Smaragd gebracht hatte; dieses wollte sie noch nicht hergeben, es war ihr als Andenken teuer.
    Inzwischen trat eine scheinbar für mich sehr günstige Wendung ein, als wollte mir das Schicksal zeigen, daß es mich entschädigen werde. Mein Onkel, dem ich auf Bitten meiner Eltern mit den schönsten Zügen meiner Kritzelschrift geschrieben hatte, antwortete mir eigenhändig mit noch abscheulicheren Krikelkrakelzügen, die fast unleserlich waren. Er sagte mir ein Studienstipendium bis zum Abschluß meiner Hochschulstudien, bis zu meiner Approbation als Arzt zu. Es war ausreichend, 100 Mark im Monat.
    Diese Summe kam mir aus einem besonderen Grunde sehr erwünscht. Ich hatte schon ein paar Wochen früher meinen Eltern vorgeschlagen, ich würde über den Sommer hierbleiben und mich in der Wohnung, die erst im Spätherbst zum Termin geräumt werden konnte, häuslich auch ohne sie einrichten, mir selbst kochen usw. Sie sollten mein Zimmerchen im Holzhaus in S. an Fremde vermieten. Jetzt war aber Geld da. Ich sagte meinen Eltern zu, sie sollten davon 75 Mark monatlich bekommen. Die erste Rate war gleichzeitig mit dem Briefe an die Adresse meiner Mutter angekommen. Damit nahm ich natürlich an, erstens, sie würden mich nach S. mitnehmen und das Zimmer dort nicht an Fremde vermieten, und zweitens dachte ich daran, daß ich diese Summe bloß bis zum Herbst abzuliefern hätte. Meine Eltern, beide ein Herz und eine Seele wie nie zuvor (es kann sein, daß ich jetzt zum erstenmal eifersüchtig auf meinen Vater war), nahmen diese Gabe als selbstverständlich an. Sie ließen mich aber nicht mitkommen, und sie dachten niemals daran, auf diese Summe zu verzichten, die immer an ihre Adresse gesandt wurde. Sie waren in Not, und sie dachten zuerst an sich, die nicht mehr jung waren. Vielleicht glaubten sie, der Onkel, der auf meinen ersten Brief so generös geantwortet hatte, würde auf einen zweiten Bettelbrief noch generöser antworten, und Geld war gut, gleichviel, woher es kam.
    Es blieben mir immer noch 25 Mark monatlich. Aber auch um diese kam ich durch eigene Schuld, ohne klüger geworden zu sein. Durch eigene Torheit, durch eigenen Übermut, durch das ›Den-lieben-Gott-spielen-Wollen‹, durch meinen Größenwahn. Meine Mutter hatte schon sehr recht gehabt, als sie einst dem Judenkaiser sagte, er solle mich

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