Ich - der Augenzeuge
zerschellen hört und die blitzenden Scherben alle sieht – daran merkt man, wie zuwider einem die Teller und Schüsseln geworden sind.
Aber ich zwang mich mit dem Aufgebot aller Energie, die Teller nicht mehr zu hassen, den Geruch nach Fett und nach Reh nicht mehr zu verabscheuen und für das bißchen Geld das zu tun, was man von mir erwartete, denn bei allem Wohlwollen für den ›Hungerstudenten‹ wollte man gute Arbeit, und mit Recht.
Anfangs aß ich nach der Arbeit, um in aller Ruhe die Speisen genießen zu können. Dann habe ich mir mit stark parfümierter Seife die Hände gewaschen.
Manchmal durfte ich sogar baden – aber ich gab diese Methode auf. Mein Hunger war bei der Arbeit vollständig vergangen, und ich konnte nichts Gekochtes und nichts Gebratenes mehr riechen und mußte mit leerem Magen fortgehen. Ich bat die gutmütige ›Wirtschaftspflegerin‹, welcher dieser Teil der Hotelwirtschaft unterstand, vor Beginn der Arbeit essen zu dürfen, und sie, die einmal als ›Abwaschmadel‹ angefangen hatte, gestattete es mir trotz des Widerstandes des anderen Küchenpersonals, das in mir den ›Gebüldeten‹, den hochmütigen Eindringling haßte. Und wie hatte ich mir Mühe gegeben, ›bescheiden‹ zu sein! Nicht jedem gelingt es wie meinem Vater. Aber schließlich schlössen wir Frieden, denn wir aßen alle aus dem gleichen Topfe.
Ich hatte es als bloße Formsache betrachtet, daß der Geheimrat mich aufgefordert hatte, mich zu melden. Die 120 Mark drückten mich ja nicht. Aber es war nicht so gemeint. Ich rief eines Abends aus Gewissenhaftigkeit bei ihm an und glaubte, man würde mich gar nicht mit ihm verbinden. Ich war erstaunt, als ich die Stimme des hohen Herrn vernahm, der sich bitter beschwerte, daß ich mich erst jetzt meldete. Ich solle sofort zu ihm kommen.
Zum Glück war es Montag, mein einziger freier Abend in der Woche.
Ich eilte also sofort hin. Er war nicht da, hatte mir aber hinterlassen, ich solle warten. »Er ist zum Protokolle stenographieren«, raunte mir die Empfangsdame zu, eine nicht mehr ganz junge, aber immer noch schöne Frau. Er mußte eben immer Schönheit um sich haben.
Mir war alles recht. Im Stenographieren war ich nicht ungeübt. Meine Aufzeichnungen, die ich zuerst in deutschen, dann in griechischen Lettern abgefaßt hatte, schrieb ich jetzt mit stenographischen Hieroglyphen. Ich durfte diesmal in das prächtige Wartezimmer mit den alten holländischen Bildern. Die Uhr schlug neun, er kam nicht. Ich hörte im Nebenzimmer die junge Frau Geheimrat mit rosiger Stimme, wenn ich so sagen darf, ein Liedchen trillern, dann lange mit einer Freundin telefonieren, dann sich mit dem Papagei unterhalten, schließlich wurde es still, die Uhr schlug zehn, er kam nicht.
Die Empfangsdame trat ein, warnte mich davor, vorzeitig wegzugehen. Er werde dann fuchsteufelswild und hätte ohnehin einen Pik auf mich. Dabei hätte er schon oft von mir gesprochen und mich, sie wußte nicht aus welchem Grunde, in S. seinem phlegmatischen Helmut hingestellt als das Muster eines wahren modernen Spartaners. Ich war schon vom Judenkaiser als Musterbild heroischer, stoischer Tapferkeit hingestellt worden, und es hatte nicht gut geendet für mich.
Aber was war zu tun? Zuerst setzte ich mich, dann legte ich mich auf das Sofa, erwachte um drei Uhr morgens, zog mir die Kleider und die Schuhe aus, um sieben Uhr zog ich sie mir wieder an, suchte die Empfangsdame auf, bat sie, mich ins Badezimmer zu führen, wo ich mir die Gelegenheit zu einem Bade nicht entgehen ließ, und verließ um dreiviertel acht das Haus, um ins Kolleg zu gehen. Ich hatte einen guten Kaffee im Magen, war froh und sang. Er war nicht heimgekommen. Man wußte nicht warum. Er hatte aber gegen fünf Uhr morgens angerufen, man solle mich nicht wecken, aber mir ausrichten, ich solle ihn unbedingt morgens anrufen.
Aber alle meine Schwierigkeiten, selbst die, meinem Wohltäter Kaiser die von ihm erwarteten Gegendienste zu leisten, schreckten mich nicht. Je mehr Hindernisse, desto mehr Energie. Ich war jung und frei, und ich lebte gerne.
Wäre es mir gelungen, meiner Mutter wieder näherzukommen, wäre ich wohl fast ganz glücklich gewesen. Was war mir im Grunde alle neue Wissenschaft im Vergleich mit ihr, der Alten, Armen und Geliebten? Aber sie schrieb geschäftlich, sachlich, und wenn es mich auch noch so trieb, ihr anders zu antworten, nämlich aus dem Herzensgrunde, so tat ich mir doch Zwang an und schrieb ihr eher noch kälter,
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