Ich - der Augenzeuge
während ich die Wohnung über die Dienstbotentreppe verließ.
Ich wußte durch meinen Kameraden Helmut, daß sein Vater einen starken Verbrauch an Menschen hatte. Das heißt sowohl an schönen Frauen als auch an ›wissenschaftlichen Mitarbeitern‹, die er teils als Assistenten besoldete, teils als Privatsekretäre oder aushilfsweise.
Er war ein von stets wechselnden Ideen besessener Gelehrter, nicht ohne Erfolg als Wissenschaftler in der Theorie. Ob er als Arzt praktischen Erfolg hatte, wußte sein Sohn nicht. Er meinte aber, das beweise nichts gegen die Größe seines Vaters. Im Grunde war er trotz der harten Behandlung blind vor Bewunderung. Sein Vater sei ein Genie, die geistig Erkrankten seien aber auch in der Hand eines Genies ohne Rettung. Man könne nur an ihnen studieren, sie bei Lebzeiten beobachten, ihr Gehirn nach dem Tode unters Mikroskop nehmen. Es sei aber der Mensch noch nicht aufgestanden, welcher einem geistig Kranken bewußt und methodisch, systematisch den Verstand wiedergegeben habe. Wozu auch, hatte der phlegmatische Helmut, hinzugefügt, es muß auch Narren geben, schon allein deshalb, damit sich mein Vater wie ein Herrgott unter ihnen fühlt.
Ich habe übrigens selbst Gelegenheit gehabt, Jahre nachher, Kaiser am Bett seiner Kranken oder im Anstaltspark und so weiter zu beobachten. Ich habe ihn immer fast väterlich, ja kameradschaftlich mit den Geisteskranken umgehen sehen in der Art, wie er mit ihnen sprach oder auf sie einwirkte. Fast alle, auch die leicht Erkrankten, waren, wenn man es beobachtete, in einer anderen Welt als Kaiser oder ich oder die Wärter, und es schien mir sogar manchmal, die Geisteskranken und Halbverrückten wirkten mehr auf die Gesunden ein als umgekehrt.
Er ließ ihnen viel durchgehen. Mehr als seinen Kindern. Er, der seinen Helmut einmal in S. wegen eines geringfügigen Zigarrendiebstahls ›krumm und lahm‹ geprügelt hatte, entließ seinen Oberwärter, der sich 15 Jahre lang in diesem so verantwortungsvollen Amt bewährt hatte, weil er einem tobsüchtigen Kranken einen leichten Schlag versetzt hatte, den dieser nicht spürte. Denn er hatte darauf mit einem schallenden Gelächter geantwortet.
Manchmal gewann ich nahezu den Eindruck, er verehre das mystische Dunkel dieser unbegreiflichen Geister; es ziehe ihn magisch an, und er fühle sich wohl in ihrer Gegenwart voll Toben, Trauer, Freude und Geheimnis und Verwirrung, Verzweiflung, Zerstörung.
Mit mir ging Kaiser nüchtern und streng um. Wenn ich geglaubt hatte, diese 120 Mark seien ›leichtverdientes Geld‹, um diesen Ausdruck meines Vaters zu gebrauchen, hatte ich mich getäuscht.
Die Studienzeit hatte begonnen, ich war den Tag über in den Hörsälen, studierte Anatomie, Physiologie, Botanik, Mineralogie, Chemie. Nachher ging ich in die Bibliothek, da ich mir keine Bücher anschaffen konnte.
Das zum Lebensunterhalt notwendige Geld erwarb ich mir, da jetzt im Spätherbst mit Kofferschupfen nichts zu verdienen war, in der Hotelküche des großen Hauses ›Zum Prinzregenten von Bayern‹.
Ich konnte nur abends im ›Abwasch‹ arbeiten, aber man stellte mich an. Ich sah bald, daß man mich aus Mitleid aufgenommen, daß man, auch ohne daß ich sagte, wer ich sei, in mir einen Menschen aus besserem Haus, einen gut erzogenen ›Hungerstudenten‹ gesehen hatte, bei dem es nicht notwendig war, die silbernen Bestecke (man aß im ›Prinzregenten‹ von echtem Silber) nachzuzählen. Ich wusch anfangs langsam und schlecht und zerbrach viel Geschirr in dem Bestreben, gut und schnell zu waschen.
Tellerwaschen ist viel schwerer, als man glaubt. Zehn Teller waschen sich ohne Schwierigkeit. Aber wenn man an den fünfzigsten und an den hundertsten kommt und immer neues Geschirr mit dem mechanischen Aufzug in den im Souterrain gelegenen ›Abwasch‹ hinabtransportiert wird und man immer wieder das mit Fett und Speiseresten bekleckerte Geschirr in die Hand nehmen, es immer wieder unter den heißen Wasserstrahl halten, es mit einer nicht mehr ganz neuen, schon weich gewordenen, mit dem widrigen weißen Fett inkrustierten Bürste abscheuern muß und wenn der Geruch des Fettes und der Speisen und der Waschlauge einem hochsteigt (der Geruch nach Wild, das es in dieser Jahreszeit sehr reichlich gab, ist mir anfangs besonders verhaßt gewesen), dann verläßt einen manchmal alle Kraft. Man läßt einen Teller fallen. Aber an dem inneren Hochgefühl, das man hat, wenn man ihn auf dem Steinboden prächtig klappernd
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