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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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ich wollte ihr nicht zur Last fallen und verzichtete gerne zu ihren Gunsten dauernd auf die 75 Mark und brächte mich gut durch. Ich erwähnte meinen Vater absichtlich nicht. Ich zürnte ihm, weil ich ihn nicht mehr so zu achten vermochte wie früher. Nämlich nicht so wie zu der Zeit, wo er noch oben war. Meine Mutter muß mich hier besser verstanden haben, als ich mich selbst verstand. Sie nahm seine Partei, mit jedem Briefe mehr, und ich war und blieb der Friedensstörer trotz meiner scheinbar so großmütigen Handlung.
    Scheinbar? Bezahlte ich sie denn nicht teuer genug? Lebte ich nicht mutterseelenallein in meinem gottverlassenen Dachstübchen, blickte ich nicht täglich ihre Fotografie an, zeigte ich diesem Bildchen nicht alles, was ich sah und erlebte, indem ich es neben mich an die Fensterscheibe hielt, so daß die Augen der Fotografie die Außenwelt, die Kirche mit dem Glockenturm und am Horizont die azurne verträumte Kette der Berge sahen? Zog ich nicht meine Mutter im Geiste, also in der Liebe, während des ganzen Tages durch den Hörsaal, die Bibliothek, ab und zu in die Volksküche und sechsmal in der Woche mit in den Abwasch der Hotelküche des ›Prinzregenten von Bayern‹? Einmal, kurz vor Weihnachten, spendete uns dort allen die Wirtschaftsverwalterin je ein Glas Glühwein. Ich preßte das heiße Glas an meine Wange und drehte es zart hin und her und dachte mir dabei, es sei die Wange meiner geliebten Mutter, die sich an die meine schmiege.
    Ich weinte nicht, ich seufzte nicht. Seit meinem Erlebnis mit dem undankbaren Roß war mir die Gabe zu weinen abhanden gekommen. Und doch sehnte ich mich nach ihr . Aber nach ihr , sowie sie einmal gewesen war , nicht nach ihr, wie sie jetzt lebte. Zwischen beiden war eine tiefe Kluft. Aber ich dachte und hoffte, eines Tages würde sie , die mich doch so gut kannte und mich deshalb auch lieben mußte , diese Kluft erkennen, alles stehen und liegen lassen, zu mir kommen und dann mit mir allein zusammenleben, meinen Vater und seine schwedischen Pavillons seelenruhig sich selbst überlassen.
    Es hatte keinen Sinn, sich weich zu machen und dem nachzutrauern, das ich auch mit aller Energie nicht wiedererlangen konnte. Weihnachten kam, ich erwartete sie hier, sie erwarteten mich bei sich. Vergebens.
    Kurz nach Beginn des neuen Jahres kam ich in der Anatomie zu den praktischen Übungen, zu meiner ersten Sektion. Man hatte mich vor den üblen Gerüchen gewarnt. Aber mit mir war etwas Merkwürdiges vorgegangen. Ich roch jetzt überall nichts als Fett und ›angegangenes‹ Reh. Es war so stark, daß ich glaubte, auch alle anderen müßten es riechen. Einmal waren im Kolleg die Nachbarn von mir weggerückt. Ich führte dies nicht darauf zurück, daß weiter unten, dem Vortragenden näher, ein paar Plätze frei geworden waren, sondern darauf, daß sie vor meinem Geruch zurückgewichen waren. Ich stellte sie zur Rede. Sie nahmen die Sache nicht ernst, hielten sie für einen Scherz. Trotzdem verließ mich diese Idee meines üblen Geruches nicht.
    Im Sektionssaal konnte ich von dem Verwesungsgeruch nichts finden. Es blieb die Fettatmosphäre um mich, wie sie beim Frisör oder im Wartezimmer des Geheimrats um mich gewesen war. Ich ließ das also sein, wie es war, und machte mich an meine Partie , die durch einen kleinen Pappdeckelkarton an dem Leichnam gekennzeichnet war. Mir und noch fünf Kollegen war eine schlanke, zierliche, wohlgebildete Leiche zugewiesen, das Gesicht friedlich, sogar etwas spitzbübisch. So fahl das Antlitz war, in welchem sich die Lippen von der umgebenden Haut nur durch ihre Runzelung und ihre etwas dunklere Farbe unterschieden, so erkannte ich es sofort wieder, es war das Gesicht des Enzianbrüderchens. Es war eine schauerliche Empfindung, als ich von der linken Hand, die mir als Sektionsobjekt zugewiesen war, das Papptäfelchen mit meinem Namen abnahm. Die Hand gehörte mir, wie es hieß. Sentimentale Gefühle änderten nichts an seinem Schicksal, nichts an meiner Aufgabe. Ich machte mach an die Arbeit, zuerst mit Herzklopfen, dann immer ruhiger. Ich zeigte mich anstelliger, als ich gedacht hatte. Der Assistent, der uns alle beaufsichtigte, war mit meiner Arbeit nicht unzufrieden.
    Ich hatte über der objektiven Wissenschaft den Enzianbruder nicht vergessen. Ich wußte, und wie gut noch, was er im Leben gewesen war. Ich hatte sogar seine Vagabundengeschichten treu im Gedächtnis, ich sah die Bleistiftnotizen voll Witz und Ironie vor mir, mit welchen

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