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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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aber viele Wohltaten, er wollte mich das lehren, was das Leben und La Rochefoucauld mich nicht hatten lehren können: Mißtrauen allen Menschen gegenüber, auch sich selbst gegenüber. Aber beherrschte denn er selbst immer und überall diese Kunst, die vielen angeboren war?
    Er erwies mir aber einen anderen großen Dienst, vom Geld ganz abgesehen. In diesem Land, in dieser übersättigten Zeit, die in dem Größenwahn ihrer technischen Fortschritte, ihres Goldes, ihrer Industrie, ihrer politischen Macht, mitten in ihrem eigenen Überfluß erstickte und nicht wußte, wohin mit sich, zeigte er mir, daß es wenigstens auf dem Gebiete der Wissenschaft noch ungeheure brachliegende Landstriche, daß es fast unermeßliche weiße Flecke auf der Weltlandkarte des menschlichen Wissens gab und daß der Arbeit kein Ende sei. Also auch keines der Freude, der Hoffnung, des Glücks, wenn man unter Glück die Illusion versteht, man habe eine Aufgabe im Leben zu erfüllen, die uns und keinem anderen zugewiesen sei.
    Vorerst freilich spielte sich alles nicht so philosophisch ab. Ich wusch Abend für Abend außer Montag, meine Hände glitschten unter der Wirkung der im Abwaschwasser aufgelösten schwarzen Seife und des weißen Sodapulvers, und ich schleppte mich manchmal wie mit gelösten Kniekehlen, fade lächelnd vor Müdigkeit, zum Hoteltelefon, um ihn pflichtgemäß anzurufen. Hier im Hotel konnte ich umsonst telefonieren und sparte die 10 Pfennig für den Telefonautomaten. Vielleicht war es nicht allein der strenge Begriff der Pflicht, sondern auch die noch strengere tägliche Not, die mich ans Telefon zwang. Ich sah ein, daß ich nicht ewig imstande sein würde, so erbärmlich wenig zu essen, in unheizbarem Raum zu wohnen und im Schweiße meines Angesichts als Wäscher zu arbeiten. Meine einzige Hoffnung war er.
    Wenn ich aber glaubte, er würde es mir an diesem oder jenem Abend ersparen, zu ihm zum Diktat zu kommen, angesichts der vorgerückten Stunde, wo ich ihn manchmal aus dem Bett klingeln mußte, täuschte ich mich. Er dachte nicht daran. Ich mußte meinen Vorschuß abarbeiten. Ich sagte, ich wäre nicht vor elf Uhr frei. »Um so besser«, antwortete er mir, »dann nehmen Sie eine Droschke, lassen Sie die Rosse peitschen, und kommen Sie!« Eine Droschke nehmen, ich, der ich 50 Pfennig pro Stunde mit dem Abwasch erwarb und dessen Sekretärdienste er auch nicht besser bezahlte! Ich trabte also fast tot vor Erschöpfung zu ihm. Er kam in einem rotseidenen Schlafrock und roch stark nach dem Parfüm seiner Frau, welche jetzt die Parfümmanie hatte, wie ich von der Empfangsdame erfahren hatte. Die Bezeichnung ›Manie‹ war im Haus des Psychiaters nicht absonderlich, im Gegenteil. Niemals bot er, eine Zigarre nach der anderen rauchend, einen französischen Kognak nach dem anderen hinunterschüttend, mir eine Zigarette oder ein Glas Wasser an. Und trotzdem, diese Diktatstunden wurden mir eine Freude, keine Last. Ich ging zwar ungern zu ihm hin, aber auch nicht gern wieder fort.
    Es war die Zeit, wo die exakte Wissenschaft sich an himmelstürmende Aufgaben machte in einem ungeheuren Aufschwung, den sie der modernen Technik, dem Mikroskop, dem Experiment im allgemeinen verdankte, und der Vorurteilslosigkeit der Gelehrten, für die es weder Gott noch Satan gab, sondern nur die ›voraussetzungslose Wissenschaft‹. Der Chemiker wollte künstliches Eiweiß erzeugen und dadurch die soziale Frage in der Eprouvette lösen, der Nervenspezialist und Psychiater mutete sich zu, eines Tages im menschlichen Gehirn die Stelle zu finden, wo das Zentrum des Glaubens an Gott oder der Begriff des Ich lag und wo die Geisteskrankheiten ihren anatomischen Sitz hatten. Kein Schleier der Natur war so dicht, als daß die damals zu gleicher Zeit so zukunftsfreudige und an sich verzweifelnde blasierte Menschheit sich nicht zugetraut hätte, ihn zu lüften, allen vergangenen Geschlechtern zum Trotz.
    Und sie ging noch weiter. Ein Mann wie Gottfried Kaiser mutete sich zu, die bis dahin als unheilbar erkannten Geisteskrankheiten oder die angeborene Schwäche der Intelligenz, Imbezillität genannt, durch eine geniale Kombination der modernen Technik (zum Beispiel Elektrizität) mit rein wissenschaftlicher Erkenntnis zu heilen. Die großartigen Fortschritte, die damals das wissenschaftliche Weltbild durch die Entdeckung des Radiums und der Hertzschen elektromagnetischen Wellen gemacht hatte, ließen alles als möglich erscheinen. Es schien nichts nötig zu

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