Ich - der Augenzeuge
ihnen an, ich würde wohl im Orte bleiben, aber beim Geheimrat wohnen und essen, weil er mich zu seiner Arbeit brauche. Meine Mutter wurde purpurrot, als sie diesen Entschluß hörte, mein Vater schaukelte das weizenblonde Fräulein gelinder und zog stärker an seiner Pfeife, schließlich beruhigte sich alles, und ich ging in Frieden. Als ich zurückblickte durch die Latten des Tores und die rostige alte Schelle klang, sah ich, daß meine Mutter ihre Socken wieder aufgenommen hatte. Sie hatte mir nicht nachgeblickt. Ich seufzte und klagte nicht. Ich sah, was es war. Ich dachte, vor einem halben Jahr, im Winter, als ich in der Hotelküche das heiße Grogglas an meine Wange gehalten und mir eingebildet hatte, das sei sie – damals sei sie mir näher gewesen.
Der Geheimrat wartete schon mit Ungeduld auf mich. Er hatte mir ein schönes, helles, nach dem See zu gelegenes Zimmer im Parterre eingeräumt, ich sollte am Tisch mit der Familie essen, ich durfte die Badehütte und die verschiedenen Ruderboote der Familie benutzen.
Von Jagd war für ihn, wie es schien, diesmal nicht die Rede. Der Hausherr hatte keine Jagdhunde auf Urlaub mitgenommen. Er hatte seine Zwinger aufgelöst, die Tierexperimente schienen nicht ›mit Glanz‹ verlaufen zu sein, wenigstens ließ er kein Wort verlauten.
Ich bin aber auch nicht zum Rudern, kaum einmal in der Woche zum Schwimmen gekommen. Ich arbeitete. Es handelte sich um eine damals ganz neue Art von Untersuchung, nämlich die systematische, lückenlose, mikroskopische Durchforschung eines menschlichen Gehirns, das in zahlreiche Schnitte, ich glaube an 2000, zerlegt war. Diese schwierige mechanische Vorbereitung der Gehirnstudien war längst in der Stadt erledigt worden, die Schnitte waren zu je 100 in zahlreichen numerierten Holzkistchen mitgebracht worden, die Kosten sollen über 5000 Mark betragen haben.
Mir war damals das menschliche Gehirn nicht mehr ganz unbekannt. Ich hatte Schnitte durch das Gewebe schon oft unter dem Mikroskop gehabt, aber niemals einen Querschnitt durch das ganze Gehirn, der außergewöhnlich schwer herzustellen war, immer nur kleine Partien. Ich konnte die Rinde von den tiefer liegenden Schichten bereits einigermaßen gut unterscheiden. Ich wußte, was ein Kern, ein Ganglion war, eine Nervenscheide, eine Markfaser, eine Bahn, eine motorische oder sensible Leitung, aber diese kümmerliche Schülerweisheit war alles.
Ich muß nun Kaiser für eine nur scheinbar nebensächliche Anordnung danken. Er hat während der ganzen fünfeinhalb Jahre, während derer ich für ihn und mit ihm arbeitete, es sorgfältig vermieden, die Zeitfolge meines regulären Studiums zu stören. Ich wäre vielleicht schon jetzt neugierig gewesen, das Gehirn eines Paralytikers zu mikroskopieren, die Krankengeschichte eines Irren kennenzulernen oder einen solchen psychiatrisch oder klinisch zu untersuchen. Er ließ es nicht vorzeitig dazu kommen. Ich erfuhr von den Geisteskrankheiten durch ihn erst dann Näheres, als ich auch im regulären Lauf meiner Studien, im vierten Studienjahre, zu diesem Gegenstand kam. Er setzte sich also jetzt zu mir. Er wies mir unzählige Einzelheiten, die mir wie jedem Ungeübten entgangen wären. Er ließ sich seine Geduld nicht rauben. Er sparte nicht mit seiner Zeit, im Anfang wenigstens nicht. Ich hätte manchmal, besonders bei strahlendem Wetter, mich lieber in den blaugrauen, lebhaft vom Ostwind bewegten kristallklaren See gestürzt. Er hielt mich fest. Ohne Worte, ohne Versprechungen, sachlich.
Seine junge Frau hielt er vielleicht nicht ebenso stark, weil er bei ihr nicht ebenso ruhig war. Katinka, die sich während der ganzen Zeit in der Stadt auf das Zusammensein mit ihrem Gatten gefreut hatte, klopfte an der Tür. Ihre ›rosige‹ Stimme erklang in ihrem ganzen Kinderzauber. Ihr Hündchen winselte und bellte. Er ließ sie warten und bat mich schließlich, ich solle den drei Jungen sagen (inzwischen war auch der jüngste Knabe eingetroffen), sie sollten ihre Mutter (mit der sie gar nicht verwandt waren) auf einen Spaziergang zu den Osterseen mitnehmen, sich aber vor dem trügerischen Moor hüten.
Er sprach fast nie von persönlichen Dingen mit mir, dies hatte ich schon in der Stadt bemerkt. Dennoch war mir bald vieles klar. Denn es war immer mein Bestreben, in den Menschen zu lesen wie in mir, um sie zu beherrschen wie mich selbst.
Er, mit seinen grauen Haaren und verwitterten Zügen, liebte, und zwar auch diesmal so, wie er immer geliebt hatte,
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