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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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sein außer einer gewaltigen Energie, absoluter Objektivität und genügend Zeit und Geld, um die Experimente zu machen. Wir, Kaiser und ich, verfügten über das alles. Was er nicht hatte, besaß ich. Er hatte mehr Geld, ich hatte mehr Zeit. Sie war mein Kapital.
    Er gab mir weder beim Kommen noch beim Gehen die Hand, er hatte eine krankhafte Scheu, seine Hand berühren zu lassen. Das störte uns nicht, mit der Zeit wurden wir beinahe Freunde, gute Arbeitskameraden auf jeden Fall.
    Im Frühjahr hatte ich ein paar Vorprüfungen zu bestehen. Ich mußte sie ablegen, um dann auf Staatskosten studieren zu können. Kaiser, der außer seinen großen Einnahmen über ein riesiges Privatvermögen verfügte und der jeder seiner vielen Gattinnen eine große Rente bezahlte, hätte mir diese Prüfungen, vor denen ich zitterte, mit etwas Geld ersparen können. Er dachte nicht daran und hatte damit wie mit allem im Grunde recht. Ich war überrascht, als ich sie mit Glanz bestand. Keine Frage gab es, die ich nicht sofort, und zwar exakt und korrekt, beantwortet hätte. Und ich war doch bisher immer ein so mäßiger Schüler gewesen. Ich behielt meinen Sieg für mich. Ich hatte erkannt, daß ich ihn nur dem Umstand verdankte, daß ich mich auf eine Sache konzentrierte und daß ich mehr mit dem Willen lebte und weniger mit dem Gefühl. Auf eine kleine Liebhaberei hatte ich dabei nicht verzichtet, ich hatte mein Französisch weiter getrieben. Mit wenig Erfolg, gestehe ich. Denn lebende Sprachen lernt man schlecht aus toten Büchern, und alle Willensenergie versagte hier.
    Noch eine gute Folge hatten die mit Glanz bestandenen Examina. Als ich das letzte erledigt hatte, atmete ich tief auf – und welch Wunder, der Fettgeruch, der mich bis dahin so zäh verfolgt und ekelhaft belästigt hatte, war verschwunden. Er kam nicht wieder. Sollte er weiter um mich geschwebt haben als unheilige Opferwolke, mir kam er jedenfalls nicht mehr zum Bewußtsein.
    Ich hatte mich schon auf ruhige Sommerferien gefreut, als mir Kaiser sagte, ich solle mit nach S. kommen, er würde mir monatlich 30 Mark zahlen, das heißt, diese Summe von der auf fast 300 Mark angelaufenen Schuld abziehen und mich nutzbringend beschäftigen. Ich willigte ein, froh, meine Eltern trotz allem wiederzusehen und mit ihnen wie früher zusammenzuleben, und immer noch in der Hoffnung, sie würden ihr Unrecht einsehen.
    Auf dem Bahnhof in S. erwarteten uns zwar nicht meine Eltern, aber Kaisers Söhne, Karl Otto, der älteste, und Helmut, die aus Norddeutschland gekommen waren. Helmut war nicht mehr so mädchenhaft hübsch wie zur Zeit, als ich ihn kennengelernt hatte. Er schien mir etwas verändert, bedrückt, trüb und scheu, voll verhaltener Leidenschaft. Er wollte mich unbedingt sofort sprechen. Ich sah, seinem Vater war es nicht recht. Ich verschob diese Aussprache und fragte ihn, wo sein Phlegma geblieben sei. Mein erster Gang war zu unserem Holzhäuschen.
    Sie saßen zu zweit im Garten, mein Vater, etwas alt und dick geworden, hatte ein paar hellbraune Furniere und einen Notizblock vor sich liegen, offenbar arbeitete er an seinen Holzmodellen. Er zeigte mir nachher ein solches in stark verkleinertem Maßstabe. Ich lernte auch den Sommergast, den blonden Mädchenzauber, kennen. Das Fräulein, Heide genannt, in knapper bunter Landestracht, stand in der Küche und kochte Früchte ein, aber nicht die bissigen Holzäpfel, an denen meine Mutter sich seinerzeit vergeblich versucht hatte, sondern Himbeeren, deren herrliches Aroma das ganze Häuschen erfüllte.
    Wir tranken Kaffee im Garten. Ich war mit den Meinen keinen Augenblick allein. Nach dem Kaffee legte sich der Sommergast in die alte Hängematte. Mein Vater schaukelte sie vorsichtig, sog dabei an seiner Stummelpfeife und warf ab und zu einen Blick auf seinen Notizblock und auf meine Mutter, die seine Socken stopfte. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, ich könnte Quartier und Kost von ihnen verlangen, das heißt, mein Vater und sein Sommerschmetterling nicht. Aber ich fing einen Blick von meiner Mutter auf, in dem noch etwas von ihrer alten Liebe und Sorge war, etwas von ihrer alten Gestalt, wie sie vor ihrer Wallfahrt gewesen war. In mir wallte es heiß auf. Aber ich sagte mir, es sei sinnlos, das Vergangene mit Gewalt aufzurühren, nur weil sich gerade jetzt eine gute Gelegenheit dazu bot.
    Ich stand auf, gab ihnen allen dreien (sie bildeten untereinander einen gemütlichen behaglichen Familienkreis) die Hand und kündigte

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