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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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er seinen La Rochefoucauld kommentiert hatte. Aber nach kurzer Zeit hatte ich dies nicht mehr vor Augen, sondern einzig das greifbare, positive Wunderwerk der menschlichen Hand.
    Wer dieses Wunderwerk der Mechanik begriffen hat, neben welchem die Mechanik eines Automobils, eines mechanischen Webstuhles, einer hundertpferdigen Lokomotive wie Stümperwerk erscheint (von einer blöden Riesenkanone ganz zu schweigen, die nichts kann als Menschen zerfetzen), wer nicht vor seinen Augen gesehen hat, wie sich in dem winzigen Raum zwischen Haut und Knochen die verschiedensten Sehnen, Strecker und Beuger, Nerven, motorische und sensible, Adern, zuführende und abführende, einordnen, wie sie hier zusammenarbeiten, sich genial einfach ergänzend, der mag mich verurteilen. Ich stand als der letzte von meiner Arbeit auf. Ich hatte alles andere vergessen, selbst meine Mutter, selbst Dr. Kaiser, der mich an diesem Abend erwartete, ich ging wie von Sinnen heim, versank in einen traumlosen seligen Schlaf und erwachte am nächsten Morgen wie neugeboren, mit großer Freude am Leben.
    Ich war in letzter Zeit öfter bei Kaiser zum Diktat gewesen. Anfangs hatte er sich den Spaß gemacht, zu versuchen, ob er mich zu Tode hetzen, das heißt, ob er schneller diktieren könne, als ich nachzuschreiben vermöchte. Das erste Mal ist es ihm gelungen, das zweite Mal nicht mehr. Ich konnte, was ich wollte. Und mochte es eine Nacht mit viel Übungen und sehr wenig Schlaf kosten. Oft war ich bei ihm freilich so müde, daß er mich aufrütteln mußte, wenn er eine lange Pause gemacht hatte und ich eingenickt war. »Wachen Sie auf, schreiben Sie!« raunte er mir zu. Ich wachte auf, ich schrieb. Ab und zu fragte er mich nach der Arbeit: »Brauchen Sie vielleicht etwas Geld?« Ich brauchte es immer. Die Kosten des Studiums waren höher, als ich gedacht hatte. Er nahm es mir nicht übel, daß sich meine Schuld bei ihm vergrößerte, vielleicht hatte er sogar damit gerechnet. Diesmal entschuldigte er mein Fernbleiben wegen der Anatomie. Er war es, der mich in Hinkunft immer auf die Anatomie hinwies. Er prüfte mich sogar manchmal mit mehr Strenge als Gerechtigkeit. Ich dachte, er täte es meinetwillen, er wolle mich wie ein Vater führen.
     
    Ich hielt damals mein Leben für sehr hart, es war aber nur äußerlich schwierig, im Innern war es leicht, denn das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, der ärztliche Beruf, war kein schweres, kein unerreichbar fernes, unpersönliches Ziel, sondern es bestand alle Aussicht, daß ich es erreichen würde.
    Meine Bedürfnisse waren gering. Ich konnte als Arzt oder als Gelehrter von sehr geringen Einnahmen leben. Ich wollte, so spät wie möglich, um lange frei zu bleiben, eine Frau wählen, welche dieselben Interessen hatte. Ich dachte dabei nicht an eine sehr junge, sehr lebensgierige Frau, ich widerstrebte einem ›unreinen Gefäß‹, mochte es noch so glatt und zierlich sein, ich dachte an eine Frau, die etwas älter war als ich, um die ich nicht zu kämpfen, an der ich nie zu zweifeln hatte, die selbst bei Schwierigkeiten und in Konflikten unbedingt zu mir halten würde. Erst später habe ich erkannt, dieses Idealbild war nichts anderes als das – meiner Mutter. Nur wollte ich nicht ihr Sohn sein, den sie zuerst mit überschwenglicher Liebe verwöhnt und für den Lebenskampf geschwächt und schließlich doch im Stiche gelassen hatte dem Gatten zuliebe, sondern ich wollte die Rolle meines Vaters spielen, mit dem sie jetzt durch dick und dünn zusammenging.
    Sie kam eines Tages zu mir und stieg die vielen Treppen hinauf, ohne den Atem zu verlieren. Ich sperrte die schwere Bodentür auf und leitete sie an der Hand zwischen den Speichergelassen in meine Stube. Sie setzte sich ans Fenster und sah sich die Aussicht an. Zu mir sprach sie nicht viel. Sie hatte eben ihre Pflicht als Mutter erfüllen wollen, denke ich. Sie staunte nicht über meine elende Existenz. Sie dachte nur an den Neuaufbau der Existenz meines Vaters. Daß er Entbehrungen auf sich nehmen mußte, ›in seinem Alter und nach allem, was er geleistet hat‹, das bedrückte sie. Sie wollte mich glauben machen, ihm sei Unrecht geschehen. Geliebt habe ich sie immer noch, aber ich hielt sie nicht zurück, als sie schon am Nachmittag abreisen wollte. Wozu den Nachtzug nehmen?
    Mein leiblicher Vater würdigte mich keines Besuches.
    Mein geistiger Vater, der Geheimrat Kaiser, dachte wohl auch daran, wie er seinen Nutzen von mir ziehen könne. Dabei erwies er mir

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