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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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ertragen, was meine Kameraden ruhig, eine Zigarette im Munde und die Augen voll kalter Wissensgier und – Neugier ansahen. Oder sollte ich mich dem Geheimrat anvertrauen? Ihm, der aus persönlichem Ehrgeiz, um eine aufsehenerregende Untersuchung zu machen und in den Augen einer seiner albernen Frauen als hochberühmter Mann dazustehen, wenn er etwa einen wissenschaftlichen Preis, eine hohe Ehrung erhielt, Hekatomben von Tieren – vergeblich, wie es schien – geopfert hatte?
    Es blieb nur noch ein Ausweg. Das Studium abzubrechen, heimzukehren und meinem Vater zu helfen. Aber half ich ihm dadurch, daß ich ihm einen ungelernten Hilfsarbeiter ersetzte, ihn aber der 75 Mark beraubte? Daß ich den zwei Geschwistern die 20 Mark abschnitt? Denn der Großonkel gab das Geld nur für die Studien und verlangte jedes Semester die Belege. Was sollte ich tun? Ich blieb drei Tage vom Kolleg weg, bat die Portiersfrau, mir einen Laib Brot und einen halben Liter Milch täglich heraufzubringen mit dem frischen Wasser, und dachte hin und her. Endlich fand ich eine Art Ausweg. Ich verteilte die Last auf beide Schultern. Ich wollte, wenn ich später als Arzt etwas geworden wäre, alle Kräfte einsetzen, um die Vivisektion, die in gewissem geringen Grade unentbehrlich war, aufs äußerste einzuschränken, die Tiere in allen Fällen zu betäuben, einen Fonds zu schaffen, um die erhöhten Kosten dieser humaneren Behandlung zu tragen. Ich glaubte an den Fortschritt, an die Humanität, weil ich es mußte. Das war aber nicht genug. Ich entschloß mich, von jetzt an kein Fleisch mehr zu essen, und blieb dem Vegetarianismus bis zum Kriege treu. Ich habe immer als ein kaltblütiger, seine instinktiven Regungen gut beherrschender Mensch gegolten, in den Augen eines guten Menschenkenners wie Kaiser. Ich war manuell geschickt, und er riet mir dringend, ich solle mich in der Chirurgie ausbilden, die jedem Arzt – auch dem künftigen Psychiater – als strenge Schule des Charakters von Nutzen sei. Ich hatte auf seinen Wunsch mich im Sommer darauf zu einem freiwilligen unbezahlten Dienst in der chirurgischen Universitätsklinik gemeldet, statt ihn nach S. zu begleiten. Ich habe durch Wochen Nachtdienst gemacht, beobachtend, lernend, mit kleinen Handreichungen beschäftigt, dem ›Operateur vom Tag‹, einem erfahrenen Assistenten, in Abwesenheit des Professors zur Seite stehend.
    Ich gestehe es, damals schwankte ich. Ich hatte zwar für die Chirurgie, den aktivsten der medizinischen Sonderzweige, Interesse, ich hatte aber auch ein gleich großes für die Psychiatrie und Nervenheilkunde, welche den passivsten, in bezug auf Heilung unfähigsten Sonderzweig darstellte. Aber mir wäre am liebsten gewesen, hätte ich mich der universellen, sehr tatkräftigen, aber nicht eben blutigen ›inneren Medizin‹, der Behandlung der inneren Organe, der Stoffwechselstörungen, Infektionskrankheiten, Vergiftungen, der Tuberkulose, der Tropenkrankheiten usw., die alle in der ›inneren Medizin‹ einbegriffen waren, zuwenden können. Sie war damals in herrlich stürmischem Fortschreiten begriffen, besonders durch die alles bisher Bekannte umwerfenden Ergebnisse der Röntgenforschung. Sie war an kein Land, an keine Sprache gebunden, wie etwa die Psychiatrie, die Kenntnis von den kranken Seelen, (Seele und Sprache sind beinahe eins), und sie war nicht so unpersönlich wie die Chirurgie, die den Menschen nur von der körperlichen Seite her kennt.
    Aber ich war Kaiser damals schon zu sehr verpflichtet, und nicht allein mit hohen Geldbeträgen. Er hatte mir in den letzten Studienjahren eine knapp ausreichende Rente gegeben. Und mehr, viel mehr noch, er war mir auch wie zu einem zweiten Vater geworden. Er hatte sich als solcher bewährt und war mir, wenn auch nur Schritt für Schritt, nähergekommen, während mein leiblicher Vater sich von mir immer mehr entfremdete, in unbegreiflicher Weise – und eigentlich ohne zwingenden Grund.
    Nach Beendigung meines Studiums verbrachte ich ein Semester als Volontärassistent an der chirurgischen Klinik. Bei einer zufälligen Gelegenheit zeigte es sich, daß Kaltblütigkeit, Überblick und Selbstbeherrschung mir nicht ganz fehlten. Es war eines Nachts ein junger Fleischergehilfe, bewußtlos vor Schock und Blutverlust, eingeliefert worden, der bei einer Rauferei eine tiefe Wunde in der Schenkelbeuge erhalten hatte. Man narkotisierte ihn, desinfizierte die Schenkelbeuge und machte sich alsbald daran, die zerfetzte Wunde vorsichtig zu

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