Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
längere Zeit. Aber man konnte es wagen. Man mußte es wagen, und die Probe mußte gemacht werden, ob man dem Meister Tod ein Menschenleben wegeskamotiert hatte. Wir sahen, wie das schlaffe, federkieldicke Gefäß sich mit einem Schlage mit dem einprallenden Blute füllte. Die Nähte wurden angespannt, aber sie hielten fest. Der Rest der Operation war ein Kinderspiel. Wir hatten alle einander gut in die Hand gearbeitet und verließen schweißgebadet, aber zufrieden, den Operationsraum.
    Aber ich blieb Kaiser treu, der mich der Psychiatrie verschrieben hatte, wie eine Mutter ihre allzu keusche oder von der Liebe zu sehr verwundete Tochter dem Kloster verschreibt. Aber nicht ich war liebessiech und herzenskrank. Er hatte einen schweren Kummer, und er brauchte mich.
    Der junge Fleischergeselle hat uns übrigens noch Unannehmlichkeiten genug bereitet. Der Blutumlauf war zu stark gestört worden, es trat Brand in den äußersten Teilen seiner Zehenspitzen ein, und das erste Glied eines Daumens und zweier Zehen mußte abgenommen werden. Ein billiger Preis, hätte man denken können, für ein sonst verlorenes Leben. Das war aber nicht seine Meinung, und die Klinik mußte ihm eine gewisse Summe aussetzen, weil er in seiner Arbeit behindert war und außerdem die Verunstaltung seines Fußes als Schönheitsfehler betrachtete.
    Aber wir hatten ja nicht auf besondere Dankbarkeit gerechnet. Wir hielten uns für Halbgötter, und solche tun nichts um des Dankes willen.
     
    Die beiden technischen Fortschritte, die dem Fleischergesellen das Leben gerettet hatten, wären ohne lange und systematische Tierversuche nie möglich gewesen. Ich mußte mich also mit den Tierversuchen abfinden, da sie damals unentbehrlich waren. Ein Menschenleben war damals etwas so Kostbares, daß man es einer nicht zählbaren Masse von Tierexistenzen gegenüberstellen konnte, um immer daraus zu folgern: ein Menschenleben ist der höchste Wert, den die Erde besitzt.
    Dieser Gedanke machte mir auch die Pläne des Geheimrats annehmbar. Ich glaubte zwar nicht sehr fanatisch an die Idee, die er hatte, nämlich durch Übertragung von Gewebsteilen der Schilddrüse eines gesunden Menschen auf einen geistig kranken oder zurückgebliebenen die Heilung zu bewirken. ›Aus einem Kretin mache ich einen intelligenten Menschen‹, rühmte er sich im voraus.
    Aber es war genug, daß von zwei Forschern der eine fanatisch war und alle Hindernisse sprengte, während der andere für gute technische Durchführung sorgte, alles kontrollierte und die nüchterne, unanfechtbare Schlußbilanz zog. Das sollte ich sein.
    Es handelte sich vorerst nicht um Heilung echter Geisteskrankheiten, denen man schon deshalb hilflos gegenüberstand, weil man nur im allgemeinen wußte, das Gehirn sei der Sitz des Leidens. Wie, wo, warum, war bei den wichtigsten Geisteskrankheiten niemandem klar. War denn das normale Funktionieren des Gehirns, das Denken, einem Gehirnforscher klar?
    Hier nützte auch die genialste Intuition eines gottbegnadeten Gelehrten und Arztes nichts. Alle Systematik war vergeblich geblieben. Ich hatte im Laufe der Jahre unzählige Gehirnpräparate unter dem Mikroskop gehabt und Kaiser noch mehr. Aber wenn wir zusammenfassen sollten, was wir über den Sitz des Geistes und seiner Mechanik wußten, mußten wir, skeptisch lächelnd, schweigen mitten in dem Haufen von Präparaten und Stößen von Protokollen. Vielleicht war meine schwärmerische Äußerung fünf Jahre zuvor, die Anordnung der Ganglien gleiche dem Anblick der Milchstraße, ebenso exakt wie das, was man von dem Sitz der Sprache, vom Zentrum dieser oder jener Muskelbewegungen wußte, wenn man es nicht vorzog, zu schweigen.
    Es drängte übrigens den alten Gelehrten öfter zum Sprechen, als er es zugeben wollte. Er wollte sein Geheimnis bewahren, das schon lange keines mehr war. Und doch war alles so menschlich, so banal, so tausendmal dagewesen, daß jemand eben sinnlos vor Leidenschaft sein mußte, um nicht den Verlauf und folgerichtigen Ausgang des Prozesses vor Augen zu haben: Ein alter Mann. Eine junge Frau. Das war alles. Dieser alte Mann war einmal jung gewesen. Dieser jetzt um Zärtlichkeit bettelnde grauhaarige Romeo war einst nicht wenig geliebt worden. Er, der sich jetzt so einsam fühlte, hatte drei prächtige Söhne und zwei fast erwachsene, wunderschöne Töchter. Aber tröstete ihn das? Er wollte eben jung und schön bleiben, unwiderstehlich, unsterblich trotz welkendem Leibe, er wollte geliebt werden, er

Weitere Kostenlose Bücher