Ich - der Augenzeuge
vergrößern, um die aufgeschnittenen Gefäße unten zu fassen und rasch abzubinden.
Aber die Blutung wurde mit fortschreitender Operation immer stärker. Es mußte ein in den unteren Schichten verlaufendes sehr großes Blutgefäß angeschnitten worden sein. Man mußte binnen kurzem die Wunde ans Tageslicht bringen, sonst verblutete sich der arme Mensch. Aber wie sie finden? Man sah buchstäblich nichts vor Blut. Das Gesicht war weiß wie ein Tuch, und unten schwamm alles in heißem Rot. Man konnte zwar vorsichtig mit dem Finger in die Tiefe tasten, aber wie sollte man mit Fingern, die mit Gummihandschuhen und Zwirnhandschuhen darüber bekleidet waren, in den vielen Schichten der Gewebe sofort das Blutgefäß finden und dann am Blutgefäß die Wundstelle?
Ein genialer Chirurg hätte sie vielleicht kraft einer Intuition gefaßt und ein Wunder getan – aber wir? Fand man sie aber nicht, mußte man die Operation abbrechen und schnell einen Notverband anlegen. Nicht etwa in der Hoffnung, ein solcher Verband, und wäre er auch mit der höchsten ärztlichen Kunst angelegt, würde die Blutung stillen und das Leben retten. Sondern nur, um den armen Kerl noch lebend auf die Krankenstation und in sein Bett zu transportieren, damit er nicht auf dem Operationstisch seinen Geist aufgäbe, was mit Unannehmlichkeiten für die Klinik verbunden gewesen wäre, nämlich Protokollen, gerichtlichen Untersuchungen und so weiter.
Als wir alle, das heißt der Operateur vom Tage, sein erster Assistent, ich als der zweite und der Narkotiseur, am Ende unseres Lateins waren, kam mir eine Idee. Ich hatte die Zeitschriften genau verfolgt und von der neuen Methode eines deutschen Stabsarztes namens M...b gelesen. Sie bestand darin, in Fällen wie dem unseren einen gewöhnlichen Gasschlauch zu nehmen, ihn um den Bauch des Patienten herumzurollen und dann so fest zusammenzuziehen, bis er die großen blutzuführenden Hauptadern des Bauches zusammenpreßte. Dann entstand in den Beinen Blutleere. Es floß kein Blut vom Herzen herein, es kehrte keines von unten zum Herzen zurück. Hatte man aber die Blutleere erreicht, konnte man klar sehen. Konnte man aber klar sehen, ließ sich auch die Wundstelle aufsuchen und freilegen. Hatte man sie freigelegt, konnte man das Gefäß unterbinden, und der Patient war gerettet, vorausgesetzt, es handelte sich nicht um die große Schenkelschlagader, die unentbehrliche Zufahrtsbahn des Kreislaufs, ohne welchen das Bein dem örtlichen Tode verfallen war.
Diese Überlegungen waren aber unnütz. Es handelte sich nicht um den örtlichen Tod, sondern um den allgemeinen. Der Operateur hörte sich meinen Vorschlag skeptisch an. Da aber sonst kein Ausweg blieb, kein Wunder mehr zu erwarten noch möglich war, vielleicht auch, weil ich ihn trotz meiner Jugend und Unerfahrenheit ein wenig zu führen wußte, ließ er sich einen Gasschlauch kommen, legte ihn um den Bauch des schlanken, fettlosen jungen Menschen, ein Operationsdiener zog rechts und eine alte stoische geistliche Schwester links an. Nach 20 Sekunden war die Wirkung wie mit einem Zauberschlage da, die Blutung stand. Die Wundstelle war in weiteren 30 Sekunden gefunden. Sie befand sich aber leider an der Oberschenkelhauptschlagader. Dieses Gefäß unterbinden, hieß das Leben retten, aber das Bein opfern, man mußte es dann früher oder später amputieren. Amputieren ist aber eine Art Schande für den Chirurgen, wie Zahnziehen für den Zahnarzt, es ist der letzte Ausweg.
Nun war damals noch eine zweite wichtige technische Erfindung gemacht worden, die des amerikanischen Arztes Armand Carell, sie bestand darin, mit einer bestimmten genialen Technik Gefäße zu nähen. Dazu waren sehr dünne Nadeln nötig. Wir hatten keine solchen. Aber die geistlichen Schwestern, die sich in ihren Mußestunden mit feinen Handarbeiten beschäftigten, hatten solche. Sie wurden gebracht, in zwei Minuten sterilisiert, der feinste Faden wurde genommen, die Nähte wurden so angelegt, wie es in der ›Internationalen Revue für Chirurgie‹ für die Ärzte der ganzen Welt beschrieben war.
Man war zum Glück sofort imstande, die Wundränder gut aneinanderzufügen, da die Verwundung durch ein scharfes Instrument, vermutlich einen geschliffenen ›Taschenfeitel‹, verursacht worden war, wie es die Bauern, Metzger und Holzfäller gern in einer kleinen Tasche über dem Gesäß bei sich tragen. Der Gasschlauch mußte natürlich sehr bald abgenommen werden, denn der Körper ertrug ihn nicht auf
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