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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Hysterie und die vom Geist hervorgerufenen Störungen, die man psychogene Störungen nannte und die teils mechanischer Art waren wie Gangstörungen, teils mehr seelischer Art wie hysterische Blindheit, hysterische Taubheit, hysterische Sprachlosigkeit, Stummheit, Fühllosigkeit. Es handelte sich darum, den Weg von der Tagesseele zur Unterseele zu finden. Hypnose und Analyse sagten uns viel. Aber einen ganz sicheren Weg fand man nicht. Ich sammelte viel Material, und meine Arbeit war eine bessere Kompilation als die üblichen. Ich legte sie endlich vor und erlangte mit ihr den Doktorhut.
    Dieses Gebiet, das bis in die Unterseele hinabreichte, war auch für die Rechtsprechung nicht uninteressant, die psychogenen Störungen hingen mit Simulation zusammen, und ich wurde darin einigermaßen Fachmann.
    Damals ging mir plötzlich auf, daß man zwischen Schicksal und Zufall keinen grundlegenden Unterschied machen konnte. Oswald Schwarz hatte einen Namensbruder; keinen feingebildeten, etwas abgelebten, zarten Frauendieb, sondern einen schweigsamen, tückischen, fahlen, aus dem Elend kommenden Vagabunden, der wegen Raubmordes an einem Strabanzerkameraden in einer Herberge angeklagt war und der vorgab, mit einem Male erblindet zu sein. Die Sache war nicht klar, da der Vagabund nach der Verübung seiner Tat lange wie geistesabwesend herumgeirrt und schließlich mit blutbefleckten Kleidern an den Ort seiner Tat zurückgekehrt war, in der Tasche noch den blutbefleckten Scherben, mit dem er dem Herbergskumpan die Kehle durchgeschnitten hatte. Er wurde verhaftet, gab irre Reden von sich, verfiel in einen vierundzwanzigstündigen Schlaf – und sah von diesem Augenblick an nicht mehr. Keinem Zuspruch zugänglich, verbissen brütend, hockte er, die Knie hochgezogen, unbeweglich fast, in einem Winkel seiner Zelle, aß nicht, was man ihm nicht in den Mund schob. Man mußte ihn zum Verhör, zum Spaziergang, zum Abtritt führen, und er tappte wie ein Blinder durch die Korridore des Gefängnisses, überall anstoßend und den Körper voller blauer Flecken. Kaiser als bekannter Irrenarzt sollte den Fall begutachten.
    Ich bin immer gegen die Rolle des Arztes als Helfer des Gerichtes gewesen. Er soll neben dem Kranken stehen oder über ihm als objektiver Zeuge, aber nicht gegen ihn. Er soll dem Kranken dienen, oder der Wissenschaft Richter muß er sein. Aber richten sollen andere. Trotzdem ist die Zeugenschaft des Arztes eine Notwendigkeit, das sehe ich ein, und genauso wie die Vivisektion eine bittere Wohltat ist, ist die Zeugenaussage des Arztes eine Wohltat, für die Gesellschaft nämlich, die in ihren Besitztümern geschützt sein will, aber auch in ihrer persönlichen Freiheit. Man(ich) muß die Interessen beider Parteien wahrnehmen. Ich mußte auch die Gegenseite verstehen. Ich mußte es lernen.
    Kaiser nahm mich zu den Untersuchungen mit. Wir sahen sofort, daß die Blindheit eine ›psychogene Störung‹, eine Simulation auf hysterischer Grundlage war. Aber damit war der Wahrheit nicht Genüge getan, dachte ich. Ich untersuchte den Kranken viel gründlicher, fast gegen den Willen des jetzt im allgemeinen recht ungeduldig und fahrig gewordenen Geheimrats, und fand meinen Verdacht bestätigt, er hatte seine Tat offenbar in einem epileptischen Dämmerzustand vollbracht.
    Von seiner Blindheit konnte ich ihn heilen. Es gelang mir durch Hypnose.
    Die Epilepsie blieb. Konnte das einem so erfahrenen Psychiater wie Kaiser entgehen? Sicher nicht. Er mußte mir endlich recht geben, als ich ihm aus meinen Protokollen die Tatsachen klarlegte. Er nahm mir die Akten aus der Hand. Als er aber (hier setzte das Schicksal Oswalds mit einem Zufall ein) den Namen des Vagabunden gelesen hatte, wurde er purpurrot vor Wut, warf das Protokoll auf den Tisch und ließ vom Schreiber nur den kurzen Befund aufzeichnen, daß die Blindheit hysterisch sei. Über den Allgemeinzustand äußerte er sich nicht. Er konnte dem Schicksal den Zufall nicht verzeihen, daß der arme Hirnkrüppel den gleichen Namen trug wie der Mann, der ihm sein Lebensglück geraubt hatte. Er, in seiner Gottähnlichkeit, gab keinen falschen Befund ab. Nein. Er war formal im Recht, denn es ging dem Gericht in erster Linie um die Blindheit. War die Blindheit simuliert – das war die Ansicht des Königlich Bayerischen Staatsanwalts –, dann war auch das Getue nach der Tat simuliert, die Rückkehr zum Tatort motiviert mit dem Wunsch des Täters, mehr zu ergattern oder die Folgen des Mordes durch

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