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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Groll an uns. Ich war zu meinen Eltern gefahren, mein Vater hatte eine kleine Fabrik für die schwedischen Häuschen errichtet, seine Angelegenheiten gingen langsam, aber solide vorwärts. Er hatte immer noch die gewisse süße Bescheidenheit, die mir seine Nähe nicht sehr erfreulich machte; meine Mutter, schon sehr gebückt und das Gesicht sehr durchfurcht, hatte etwas Herbes, Feierliches, dabei aber Inniges und Wahres, und ich fühlte mich bei ihr wohl.
    Nach einigen Tagen suchte mich die Hausdame auf. Sie kam im Namen von Kaiser, er bat mich, zurückzukommen, alles zu vergessen. Er hatte auch Katinka alles abgebeten. Als ich ihn wiedersah, erschrak ich, denn er war die Ruine eines in seiner Art immer noch stark gewesenen Menschen. Der Bart um den Mund zeigte große gerötete Lücken. Das kam daher, daß der Geheimrat in seinem Gefühlsdelirium sich einen Heftpflasterstreifen über die Lippen geklebt hatte, um die Äußerungen seines Schmerzes zu beherrschen, Schweigen zu lernen, Enthaltsamkeit zu lernen. Eine greisenhaft krankhafte Geste ›gegen den Wein, das Weinen‹, sagte er mit gebrochener Stimme.
    Er zeigte mir den Entwurf eines Briefes an die geliebte Katinka, in welchem er ihr versprach, sie zur Universalerbin einzusetzen, ›als Dank meines Herzens für alle Schönheit und Liebe‹. Ich sagte, diese allzu große Güte würde Katinka wie Hohn vorkommen, er solle dem Paar lieber ein paar hundert Mark monatlich aussetzen und sie vergessen.
    Er strengte sich an, meinem Rat zu folgen. Er simulierte. Er simulierte Neidlosigkeit, reines väterliches Wohlwollen, ich sah aber seinen Blick in leidenschaftlicher Wildheit, seinen Jahren zum Trotz, aufflammen, als er in der Zeitung las, ›der routinierte und nur routinierte‹ Hoftheatermime a.D. O. Schwarz habe alle ins Unrecht gesetzt, die ihn früher so wahnsinnig überschätzt und mit Gold und Lorbeer überschüttet hätten. ›Die Arme! Oh! Oh! Nicht einmal Oswald mehr! O. Schwarz! Wenn sie das liest!‹ sagte Kaiser, mir das Blatt reichend. Er strahlte, wurde fast wieder jung, es war seine erste Freude seit langem.
    Freilich, einige Monate nachher war er wieder in tiefster Verzweiflung. Nicht weil etwas Entscheidendes geschehen war, sondern weil nichts geschehen war und er den unerbittlichen Ablauf der Tatsachen des Altwerdens und der Resignation und Einsamkeit nicht ertrug.
    Die Hausdame, die auf seine Bitte hin ebenso wie ich geblieben war, hatte nun von früher her gute Verbindungen zum Hofe. Der Alte hatte Ehrungen genug im Leben erhalten. Man konnte sich eigentlich nicht vorstellen, daß ihm der ›persönliche‹ Adel etwas Besonderes bedeuten würde. Aber es war doch der Fall. Die Schwierigkeiten waren groß, weil Kaiser oben als schlechter Katholik und halber Anarchist angeschrieben war. Nun drehte er sich von einem Tag auf den anderen, Thron, Armee und Altar waren ihm plötzlich die heiligsten Güter, er, der in seiner Wissenschaft die großen Leistungen jüdischer Gelehrter schätzen gelernt hatte, von denen die rein geistige Methode besonders gefördert wurde, entwickelte sich zum Judenhasser – weil Schwarz aus einer halbjüdischen Mischehe stammte. Er bildete sich ein, Schwarz würde vor Neid erblassen, wenn er erführe, Kaiser sei geadelt worden, und er sagte sich den Namen seiner früheren Frau mit bebenden Lippen tausendmal vor: Katinka von Kaiser, und fragte mich, ob das nicht prachtvoll klinge. Ich nickte lächelnd. ›Und Kat Schwarz dagegen!‹ spottete er, sich auf die schlechte Gewohnheit beziehend, die Frauennamen jämmerlich zu verstümmeln, Ma, Kat, Lu, Pat, Li, Lo etc.
    Alle diese Episoden brachten ihm nur auf Wochen etwas Beruhigung. Er wurde des Lebens müde. Die Arbeit für die Allgemeinheit sagte ihm nichts. Die Politik verachtete er als Tummelplatz der gemeinsten Instinkte und als Herd der banalsten Intrigen. Er wollte ins Kloster, sagte er mir, mit bitterem Lächeln hinzufügend, ja, in ein Kloster für Atheisten. »Und Ihre Familie?« fragte ich, denn ich dachte an Helmut. Er gab mir nicht einmal eine Antwort.
    Ich sollte die Klinik übernehmen. Er wollte, ich solle vorher einen akademischen Grad erlangen. Dazu mußte ich eine wissenschaftliche Arbeit vorlegen, eine Dissertation. Meist waren es wertlose Kompilationen, Fleißaufgaben. Ich strebte höher. Mich interessierte eine Erscheinung, die man damals unter dem Einfluß der jungen jüdischen Wiener Psychiaterschule und unter dem Einfluß Charcots tiefer studierte, die

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