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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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einen angelegten Brand zu verwischen. Der Fall kam vor eine Jury von Bauern, einfältigen Gemütern, denen der Besitz alles war. Oswald Schwarz hatte viele Diebstähle, Gewalttaten, auch Sittlichkeitsdelikte hinter sich. Man machte kein langes Hin und Her und verurteilte ihn zum Tode. Er wurde hingerichtet am 30. Juli 1914. Auch das war Zufall – Schicksal. Hätte der Strafvollstreckungsbeamte sich mit der Erledigung des Aktes Oswald Schwarz ein paar Tage länger Zeit gelassen, hätte man den Mörder wahrscheinlich begnadigt, wie man es damals im Taumel der ersten Kriegsbegeisterung mit zahllosen anderen tat.
    Mit einem Schlage gab es kein Europa mehr, die Grenzen waren gesperrt, und überall floß Blut. Im Norden, im Osten, im Süden, im Westen. Der Kosmopolitismus war zu Ende. Es gab keine Reisen ins ›Ausland‹ mehr, es gab keine Rechte des einzelnen mehr, keine Pressefreiheit, also keine Denkfreiheit, keine Forschungsfreiheit. Keine Kritik. Keine Vernunft. Es herrschte Kriegsrecht, Notrecht, also kein Recht. Das universale Völkerrecht war dem geheiligten Recht der sich verteidigenden einzelnen Nation unterlegen, die gegen eine oder andere Nationen kämpfte, die sich ebenfalls verteidigten. Wenn sie sich alle gegen alle verteidigten, hätten sie ebensogut daheim bleiben können, das wollten sie aber nicht mehr, selbst wenn es noch möglich gewesen wäre. Die bestialischen Triebe, die Unterseelen waren erwacht, man rühmte sich der unerschütterlichen, mitten im strömenden Blut, in furchtbaren Leiden und Schmerzen wie Eisen so starren Herzen, der von keinem Jammer und keinen Wunden zu rührenden Gemüter. Alles war gesund, mutig und gut, alles war patriotisch, alles war stolz auf seine Nation. Eine süßliche Woge von Sentimentalität ließ alt und jung, arm und reich sich miteinander am Fuße des Altares des bedrohten, tugendhaften Vaterlandes vereinen. Jeder gab sein Scherflein. Der Große und Reiche ein kleines, und der Kleine und Arme auch nur ein kleines. Kalt lächelnd oder mit gemütvollen Tränen in den Augen, lasen die Menschen aller Länder ihre Heeresberichte, die von tausenden Toten, zehntausenden Verwundeten, hunderttausend Gefangenen an einem Tage, zum Beispiel anläßlich der Masurenschlacht, berichteten oder anläßlich der ›gerechten Zerschmetterung‹ des kleinen Serbenvolkes. Keiner hoffte auf etwas außer auf den Sieg.
    Aber was dann? Was waren die Ziele des Krieges? ›Davon wird die Rede sein, wenn wir den infamen Gegner auf die Knie gezwungen haben‹, hieß es, schlicht in der Gesinnung, phrasenreich in der Form. Es gab also keine greifbaren Ziele. Wie hätten die Ziele denn jetzt im Chaos bestehen sollen, wenn schon vorher, in der scheinbaren Ordnung, die Massen keine Ziele gehabt hatten, es sei denn warmes Essen, gutes Wohnen und viel Zerstreuung und ein langes bequemes Leben? Da aber alle Europäer diese Ziele hatten und der Krieg sie im Falle des Sieges im besten Falle nur einer einzigen Partei bringen konnte, war jedem logisch denkenden Einzelmenschen der Ausgang von Anbeginn klar. Aber der einzelne war nichts mehr. Der Staat brauchte Massen, den letzten Mann, und die letzten Männer wurden durch Addition groß und fühlten sich und waren als Sklaven die Herren.
    Auf die Massen kam es an, und man sprach zu ihnen. Es setzte eine maßlose Propaganda ein. Eine fette und erfreuliche Lüge (zum Beispiel wollten alle, Freund wie Feind, nur Opfer eines ungerechten Angriffs sein) war im Dienste der guten Sache besser als eine bittere und triste Wahrheit. Was den Menschen zum Menschen macht, Vernunft und Maß, das galt plötzlich als vaterlandsfeindlich: ›Denken polizeilich verboten! Bis zum Siege schweigen, durchhalten, Maul halten.‹ Anfangs widerstrebten ein paar wenige. Auf die Dauer fast keiner. Ob jeder eine Seele hatte, blieb dahingestellt, eine Unterseele hatte jeder. Jeder wollte der Stärkere sein und als der Stärkere im Recht. Der Sieg war das Recht und Sparta das Gesetz aller.
    Die ganze Nation trat mit der Zeit voll in den Dienst des Krieges, der allmählich alles umfaßte und nichts mehr aus seinem Rachen wiedergab. Nicht mehr groß und klein, alles war wertvoll als Masse, wertlos als Einzelerscheinung. Ob ein Angriff 100000 oder ›nur‹ 10000 Menschenleben wert war, entschied die strategische Lage. Niemand von den Menschen, die zugrunde gingen, wurde gefragt. Alles leistete den Eid, weil den Eid verweigern Selbstmord war. Alles gehorchte allen. Dies war ihre Ehre. Ein

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