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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Ehrungen von ihr Beweise einer großen Zärtlichkeit empfing. Küsse, Streicheln, Koseworte, anbetende Blicke. Nur ich blieb skeptisch, ich glaubte zu erkennen, daß es immer noch, und mehr denn je, die Triebe einer Tochter waren – und die Regungen eines bösen Gewissens, das sich bei dem Leiden des von ihr geachteten Mannes nicht ruhig hatte fühlen können. Sie ließ es als Zärtlichkeit einer spät erweckten jungen Frau erscheinen. Man konnte sich darüber täuschen, mußte sich aber nicht täuschen lassen.
    Was ich aber weiß, ist, daß der Fortschritt im körperlichen und geistigen Wachstum des jungen Kretins bald stockte. Er verlernte allmählich, aber unwiderruflich seine neuen Künste. Er wurde, was er vorher gewesen war. Der Rausch der Schilddrüse war vorbei. Er war erwacht gewesen, jetzt schlief er wieder ein. Seine Mutter und der Chef sahen es nicht. Ich sah es an dem klinischen Verhalten des armen Jungen, ich sah es bei einer Probeexzision an dem eingepflanzten Lebensgewebe. Es war zu banalem Fett geworden. Mit der wissenschaftlichen Umwälzung war es also nichts. Was konnte Kaiser tun? Er tat etwas Unschönes, er erklärte, ich hätte aus Neid seine Ergebnisse gefälscht oder die Operation absichtlich nachlässig ausgeführt.
     
    Der alte Herr schien es mir in seiner Gottähnlichkeit besonders übelgenommen zu haben, daß ich mich kraft des Willens, kraft der Nüchternheit und Selbstbeherrschung solchen Schwächezuständen der Seele bisher einigermaßen entzogen hatte und ihm das gleiche in aller Bescheidenheit anriet. ›Was versteht ein Vegetarianer vom Fleisch?‹ rief er verächtlich aus. Vielleicht lernte jedoch unsereins das Fleisch, das ›unreine Gefäß‹ bei Mann und Weib, auch dadurch kennen, daß er seiner Herr wurde.
    Darin hatte er aber recht, ich liebte nicht wie er und wollte nicht so geliebt werden wie er. Ich wollte mein ganzes Leben im kühlen Licht der bewußten Vernunft führen. Vielleicht habe ich später aus diesem Grunde unbeschreiblich leiden müssen, weil ich nicht einsehen konnte oder wollte, daß nicht alles in der Vernunft beschlossen ist. Es gibt einen Geist, eine Seele; es gibt aber auch eine Unterseele. In entscheidenden Augenblicken sind es nicht die logischen Gründe, der Geist La Rochefoucaulds oder Voltaires, welche unsere Überzeugungen und Entschlüsse bestimmen, sondern unberechenbare Schwankungen der Gefühle.
    So hätte ich folgerichtig aus den Tatsachen schließen können, daß ich meinen Chef durch mein objektives Urteil in zwei wichtigen Angelegenheiten seines Lebens, Frau und Berufsleitung, vor gefährlichen Irrtümern geschützt hatte und er mir danken müsse. Und wenn er schon nicht dankte, und wenn er, entsprechend dem Wahrwort des Judenkaisers, Dank durch Niedertracht ersetzte, so hätte er alles eher tun dürfen, als mir die längst verjährte Bestechungsangelegenheit meines Vaters vorzuwerfen. Das war zu absurd, seiner nicht würdig. Denn was hatte ich damit zu schaffen? Aber ich erkannte die böse Absicht und kündigte die Stellung. Ich hatte jetzt an der Psychiatrie Geschmack gefunden, an ihren neuen Methoden, die die Krankheiten des Geistes mit geistigen Mitteln, Analyse, Hypnose bekämpft. Ich war ihm noch viel Geld schuldig. Über die erhaltenen Summen stellte ich ihm einen Schuldschein aus, den er zerriß, außer sich vor Wut. Ich sammelte die Papierschnitzel, steckte sie ruhig in ein Kuvert, klebte es zu und ließ es auf seinem Schreibtisch. Er sah mir fassungslos nach, als ich sein Arbeitszimmer verließ. Angelika, seine Hausdame, empört über sein Verhalten, kündigte ihm. Und als wäre damit sein Leben noch nicht genug gestört, sagte ihm Katinka am gleichen Abend, sie könne ohne Oswald nicht leben. Sie wolle ihren Mann nicht betrügen. (Vielleicht wäre ihm dies aber lieber gewesen, als sie ganz zu verlieren.) Sie bat ihn, ihr die Scheidung zu ermöglichen, die er so vielen Frauen gegen ihren Willen aufgedrängt habe. Auf die Abfindung verzichtete sie. Er fragte: »Und wovon wollt ihr dann leben, ihr damisches Hungervolk?« Sie zuckte die Achseln. Er nahm ihren Verzicht auf das Geld an, nicht aus Geiz und Knickerei, sondern aus Bosheit, damit die beiden nicht zu glücklich würden.
    Sie reiste noch in der gleichen Nacht mit einem kleinen Köfferchen ab. Er blieb während der nächsten Tage zu Hause, immer am Telefon, einen Anruf von ihr oder von mir erwartend. Wir müßten doch wiederkommen, dachte er, und dabei dachte er nur in Wut und

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