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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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paar Techniker leiteten den Krieg, eben als Techniker, ohne sich als Spezialisten der Schlachten darum zu kümmern, weswegen er geführt wurde und wann und wie er enden sollte. Nur strategische, politische – keine moralischen, religiösen Ziele. Die Nation als Gott. Unten war jeder an einen Platz gestellt, dort hatte er zu bleiben, zu arbeiten oder zu schießen oder in der Fabrik zu wirken. Den meisten Menschen tat es aber wohl, daß sie nicht gefragt wurden. Der passive Gehorsam betäubte Sorgen, Gewissen, Angst um das Leben. Keiner kam zur Ruhe, und niemand hatte ein Recht darauf.
    Notwehr, Notrecht des Staates, jeder als Mittel zum Zweck, so auch ich. Niemals hatte ich so rasend viel zu tun, und niemals habe ich weniger gehandelt und einen Willen gehabt als damals.
     
    Zuerst hatte ich noch in Geheimrat Kaisers Diensten gestanden, weil dieser mich als ›unabkömmlich‹ beim Generalkommando angemeldet hatte und mich vor dem Kriegsdienst bewahrte. Ich leitete gemeinsam mit seinem alten Oberarzt seine Anstalt, bis die Ernährungsschwierigkeiten und der Mangel an geübten, verläßlichen Pflegern es uns unmöglich machten, die Kranken zu behalten. Sie wurden teils in Provinzialanstalten gebracht, teils in auf dem Lande gelegene Sanatorien, wo die Lebensmittelbeschaffung weniger schwierig war. Der Staat, auf der Höhe seiner Macht und Autorität, konnte weder seinen Untertanen das Leben und die Erhaltung der Existenz garantieren, noch die Menschen, Mann, Weib, Greis und Kind, krank und gesund, vor Hunger, Kälte und Nacktheit schützen. Aber er blähte sich nur um so mehr auf.
    Mein Vater lebte weiter in S. Er hatte seine Fabrikation auf Kriegsmaterial umgestellt und erzeugte Gewehrschäfte. Die erforderlichen Rohstoffe wurden von Tag zu Tag minderwertiger, da es sich aber um jenen Teil der Waffe handelte, der keiner groben Abnutzung unterliegt, kam er zurecht und steigerte sogar die zunächst nur von ein paar Arbeitern betriebene Erzeugung. Dann mußte er aber, um der guten Sache willen, zwar nicht mit übergroßer Freude, seine bescheidenen Gewinne in Kriegsanleihen anlegen. Er hatte Angst, trotz seinem Alter eingezogen zu werden, zahlte ein und trug seinen Patriotismus nun doppelt zur Schau, stolz auf seinen Sohn, stolz auf seine Fabrik und stolz auf sein siegreiches Volk.
    Auch der alte Judenkaiser hatte seine schwachen Kräfte dem Vaterland zur Verfügung gestellt und ging im schwarzen, abgeschabten Zivilanzug, aber auf der Brust das Eiserne Kreuz, das er als Freiwilliger 1870/71 bekommen hatte, von einem Hilfslazarett zum anderen. Die jungen Ärzte brauchte man an der Front. Seine Tochter hatte einen sozialistischen Abgeordneten, den Arbeiterführer Leon Lazarus, geheiratet. Dieser kluge und erfahrene Mann war der allgemeinen Ansteckung des Kriegswahns nicht entgangen, er hatte sich freiwillig gemeldet, und man hatte ihn eingezogen, obwohl er als Abgeordneter dem Kriegsdienst nicht unterlag. Es fehlte ihm weder an Überzeugung noch an Mut. Ich habe später erfahren, daß er, um dem Konflikt zwischen seiner internationalen pazifistischen Überzeugung und seiner Pflicht als nationaler Deutscher zu entgehen, sich an die Westfront gemeldet hatte. Das Schicksal kümmerte sich um seine Beweggründe nicht, er war gutes Kanonenfutter und fiel bei seinem ersten Gefecht. Seine Witwe, in ihrer Trauer schöner denn je, litt sehr, aber sie schwieg, ertrug alles und trat als Pflegerin in ein Mannschaftslazarett ein, nachdem sie einen Kurs durchgemacht hatte.
    Auch ich wurde eingezogen. Man hatte mich als jungen Studenten nicht als militärdienstleistungsfähig anerkannt, weil meine Rippen infolge meiner Verletzung etwas deformiert waren und der Staat auf tadellos gewachsene Soldaten Wert legte. Nun war er nicht mehr so wählerisch. Ich machte also meine Ausbildung mit, sprach kein unnützes Wort, ertrug stoisch die Strapazen. Ich hatte meinen alten La Rochefoucauld wieder vorgenommen und lernte in den Mußestunden Französisch, denn alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür, ich würde an die Westfront kommen. Angelika, mit der ich seit Jahren zusammen lebte, mußte ihren Platz als Empfangsdame und Hausdame bei Kaiser aufgeben. Sie hatte etwas Geld, legte es, meinem Wunsch entgegen (es war unser erster Zwist), in Kriegsanleihe an, weil diese sich hoch verzinste und sicherer schien als pures Gold. Sie hatte vor, später in irgendein Offizierslazarett als Wirtschaftsleiterin einzutreten, wollte sich mir aber so lange

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