Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
ausschließlich widmen, als ich noch im Hinterland war. Sie sprach ein fast fehlerfreies Französisch, und wir begannen uns in dieser Sprache sehr formell zu unterhalten. Lag es an dem, lag es daran, daß ich in der Unmenschlichkeit dieser Zeit, aus meiner Tätigkeit gerissen, ohne Ziel und Hoffnung, einer so harmonischen Beziehung, wie es die unsere bis dahin immer gewesen, nicht mehr fähig war – wir entfremdeten uns einander. Dafür versöhnte sie sich mit ihrem geschiedenen Mann, bevor dieser ins Feld abging.
    Ich hing gewiß sehr an ihr, konnte ihr aber nicht sehr nachtrauern. Alles war stumpf und starr in mir, und ich erwartete mit Sehnsucht den Tag, wo ich ins Feld abreisen sollte, und zwar als Feldunterarzt. Meine Mutter bot alles auf, um mich umzustimmen. Es hätte Wege genug gegeben, mir ein sicheres Plätzchen im Hinterland oder wenigstens in der Etappe zu sichern, aber ich wollte nicht.
    Ich war als junger Arzt ein guter Operateur gewesen, und als man mich fragte, welche Spezialfächer ich am besten beherrsche, nannte ich die Chirurgie als erstes und Nervenheilkunde als zweites. Es wunderte mich daher nicht, daß man mich an die Westfront, in den Abschnitt von La Fierté Lescoudes, in eine heiß umkämpfte, völlig zerschossene Gegend, in ein Divisionslazarett kommandierte.
    Ich kam spätabends an, und schon in der gleichen Nacht hatte ich die ersten Operationen vorzunehmen. Es kamen, da sich das Lazarett sehr nahe der ersten Linie befand, vor allem diejenigen Verletzten zu uns, die eines sofortigen chirurgischen Eingriffs bedurften; also hatte man meist zu amputieren. Die Verwundeten waren gesiebt, und viel zu überlegen gab es weder für den Arzt noch für die Verwundeten. Lieber als Krüppel weiterleben als sterben – das leuchtete allen ein.
    Die schweren Kämpfe flauten dann in dem Abschnitt plötzlich ab, wir hatten mehrere Monate fast nichts zu tun. Dann schwoll der Kanonendonner zu ununterbrochenem Dröhnen an, die Erde zitterte, französische Flieger surrten, aber ohne Bomben abzuwerfen, niedrig über unseren durch riesige rote Kreuze gekennzeichneten weißen Operationszelten, und nach kaum einer Stunde begannen die ersten Ambulanzautos, mit Schwerverwundeten in mehreren Etagen besetzt, in schnellstem Tempo anzurollen. Wir erlebten nun sechs Wochen ununterbrochener Riesenangriffe. Wir kamen nicht aus den Kleidern. Ein paar Stunden unruhigen Schlafs ausgenommen, während deren wir nur Schuhe und Strümpfe ablegten, standen wir an einem der vielen Operationstische und wateten buchstäblich im Blut. Wie mich als Hungerstudent der Geruch von Fett umschwebt hatte, so jetzt der nach blutigem Menschenfleisch.
    Die Operationen nahmen kein Ende, die schauererweckende Kette riß nicht ab. Man sah kein Menschengesicht mehr. Dieses lag erdfarben unter der weißen Chloroformmaske. Man hatte keine Entscheidung zu treffen, alles war durchorganisiert, die Soldaten kamen (Mannschaften und Offiziere ohne Unterschied) schon vorbereitet und annarkotisiert zu uns wie Werkstücke am laufenden Band, um die Methode Fords auf diese Menschenoperationsfabrik anzuwenden, wir griffen mit unseren Händen zu, und wir arbeiteten flink und sicher, nicht anders als geübte Fabrikarbeiter.
    Nach einigen Wochen war ich wie verblödet, vertiert, ohne Energie und doch immer angespannt, nicht fähig, einen Brief zu lesen oder zu schreiben, den Heeresbericht zu verfolgen, ein Buch vorzunehmen oder in den kurzen Pausen Karten zu spielen oder Grammophonmusik zu hören. Operieren fort und fort, Hautschnitt in Zirkelform nach Anlegung der blutabschnürenden Binde, Fassen der oberflächlichen Blutgefäße, Durchtrennung der Muskeln und Gefäße und Nervenstränge in einem glatten Schnitt, die Knochensäge heran und blitzschnell sägen. Und dann fiel ein Glied, man brachte es schnell fort. Denn Zeit war Geld oder mehr als Geld, Zeit war Menschenleben, und wenn der Staat auch das Menschenleben nicht mehr achtete, so wollte er doch keinen, den er vielleicht später noch brauchen konnte, unnötigerweise zu früh sterben lassen. Dann kam das präzise Aufsuchen und Abbinden der tiefen Adern, die immer dort lagen, wo sie zu liegen hatten, die Versorgung des Knochenstumpfes, wichtig besonders bei Oberschenkelamputationen, dann die Toilette der Wunde, die Hautnaht, und schnell der nächste. Nach Armen und Händen kamen wieder Arme und Hände oder Unterschenkel oder Oberschenkel, und das ging viele Wochen so fort.
    Die meisten von uns Ärzten

Weitere Kostenlose Bücher