Ich - der Augenzeuge
begannen viel Alkohol zu trinken, ich tat es nicht. Das Essen war gut und reichlich, aber alles schmeckte nach Amputation. Unsere Tätigkeit war human und notwendig. So wie wir anderen halfen, so mußte auch uns geholfen werden durch, gute Kameraden.
Unser Leben war nicht gesichert. Schwere Geschosse schlugen einmal in die Operationsbaracke ein. Ich war nicht anwesend. Ich hatte meine letzte Energie zusammengerafft und war bei schönem klarem Wetter mit einem kleinen Wagen ausgefahren. Meine Kameraden, Ärzte, Pfleger, Feldgeistliche, Ordonnanzen und Köche wurden ebenso wie die eingelieferten Soldaten und Offiziere schwer verwundet oder getötet. Es sei nicht zu vermeiden, hieß es. Es war nicht einmal nachzuweisen, daß ›der Engländer‹ dem die schwere Geschützbatterie, eine Marinebatterie, gehörte, mit Absicht den Verbandsplatz beschossen hatte. Es wurde schleunigst Ersatz geschafft, und ich operierte am Tage darauf mit ganz neuem Material und mit mir bis dahin unbekannten Kollegen. Aber auch sonst wechselten die Ärzte, lange hielt es niemand aus, ich war noch einer der zähesten. Der Alkohol half ihnen nur zeitweise und schädigte die Arbeitskraft sehr, vom Morphium ganz zu schweigen.
Ich bezwang mich, und dank meiner Willenskraft hielt ich mich frei von beiden. Man wollte uns, wenn die Arbeit etwas nachließ, aufheitern, unseren patriotischen Sinn stärken und auf andere Gedanken hinlenken. Man stellte ein paar Kilometer hinter der Front improvisierte Bühnen auf, und kleine Schauspielertruppen spielten, so gut sie konnten, meist hastig und fahl vor Angst hinter ihrer dicken Schminke. Bei einer solchen Vorstellung sah ich Oswald Schwarz. Er war fast unerkennbar. Dick geworden, aufgeschwemmt, hatte der frühere Charakterdarsteller sich als Komiker herausgemacht und war schon so weit in seiner neuen Kunst, daß er die Theaterbesucher, Mannschaften und Offiziere, zum Lachen brachte.
Ich hielt es nicht lange aus und ging. Ein Kollege forderte mich auf, ihn in das Offiziersbordell zu begleiten. Ich ging mit, ich ekelte mich aber beim Anblick der Weiber ebenso über sie wie über mich, und zog wieder ab.
Die Schlacht an dem betreffenden Abschnitt war abgeschlossen, und zwar zu unseren Gunsten. Die Sanitätstruppe packte unser Material in numerierte Kisten zusammen, brach auf und stellte ihre Zelte ein paar Kilometer weiter vorn auf. Wir warteten nicht lange auf Arbeit. ›Der Franzose‹ warf uns einen Gegenstoß entgegen, und es folgten wiederum vier Wochen ununterbrochenen Operierens. Dann hieß es, der Abschnitt sei nicht wichtig, er sei die großen Menschenopfer nicht wert, wir packten ein und zogen uns dorthin zurück, von wo wir vor einigen Wochen aufgebrochen waren. Ich erhielt Urlaub, weil ich an der Reihe war. Die Bürokratie arbeitete gut. Wir waren immer einigermaßen verpflegt, und die Qualität des medizinischen Materials verschlechterte sich nur allmählich in demselben Grade wie das Menschenmaterial.
Ich suchte meine Eltern auf. Sie freuten sich beide, der Vater diesmal fast mehr als die Mutter, schien es mir. Ich hatte den Maßstab verloren, konnte mich kaum zusammenhängend unterhalten. Man wollte auch keine wahrheitsgetreuen, sondern nur sonnige, hoffnungsvolle, nämlich soldatische, spartanische Berichte. Von einer Aussprache war nicht die Rede. Ich sah Viktoria wieder, staunte sie an und sie mich. Ich sie wegen ihrer Schönheit und sie mich wie ein fremdes Tier.
Im Hinterlande herrschte eine merkwürdige Stimmung, teils unsinnig übermütig, teils unsinnig verzweifelt. Die Massen begannen, den Krieg auch in dem Hinterland kennenzulernen. Es meldeten sich ein paar Friedensschwärmer und sprachen mutig von einem Frieden ohne Sieger und Besiegte, von einem Abschluß der Feindseligkeiten ohne Annexionen und Kriegsentschädigung. Sie setzten sich nicht durch. Der Staat, der nichts konnte als stur weiterkämpfen, weil er kein festes Ziel hatte außer dem, sich selbst zu erhalten und größer zu werden, als er vorher war, warf eine gewaltige Gegenpropaganda in den Kampf der Meinungen. Obwohl die Friedensfreunde im Parlament eine große Majorität gehabt hatten, mußten sie unterliegen, da sie die Exekutivgewalt nicht hatten. Diese hatte ein Mann ohne Verantwortung inne, ein Diktator im Marschallrang, dem alles blind zu gehorchen hatte, ohne zu überlegen, ohne zu zaudern. Da er persönlich untadelhaft war und wie seine Helfer nur für den Sieg lebte und eine unermeßliche Arbeit leistete,
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