Ich - der Augenzeuge
waren meine Protokolle, welche sich auf A. H. bezogen. Sie konnten mir dienen, wenn ich in einer wissenschaftlichen Arbeit Exempel über die Folgen gewaltigster Leiden seelischer und körperlicher Art für den Menschen beibringen wollte.
Ich reiste nach M. zurück und nahm dort Quartier in dem besten Zimmer des Hotels ›Zum ehemaligen Prinzregenten von Bayern‹ wo ich als Student Teller gewaschen hatte. Niemand erkannte mich. Das Personal hatte gewechselt. Es bestand jetzt aus alten Männern und jungen Frauen. Die jungen Männer hatten ins Feld gemußt.
Der Regent des Landes Bayern existierte nicht mehr. An seiner Steile kommandierten die Arbeiter- und Soldatenräte. Aber sie herrschten nicht. Da niemand wußte, was das Dringendste war, und da man vor allem kein gemeinsames Ideal und politisches Ziel hatte, kam man aus den endlosen unfruchtbaren Diskussionen um die Macht nicht heraus. Das offizielle Ministerium hatte noch weniger Macht als die Räte, denn woher sollte seine Autorität kommen? Vielleicht wollte niemand mehr herrschen und führen; die anderen so wenig wie ich.
Mein erstes war, mich mit meinen Eltern in Verbindung zu setzen. Da die Eisenbahnen ausschließlich dem Truppentransport dienten und kein Auto zu haben war, nahm ich einen klapprigen Wagen mit einem lahmen, furchtbar abgemagerten Pferd und fuhr nach S., ohne mich vorher anzukündigen. Ich klopfte an die Tür unseres Häuschens, nachdem mir auf das Läuten der alten Schelle niemand durch den hohen Schnee des Gartenweges entgegengekommen war. Die sehr leise, von furchtbaren Hustenstößen unterbrochene Stimme meiner Mutter antwortete mir. Ich trat ein.
Das Zimmer war von dem üblen Dunst erfüllt, den der schwelende Torf gibt, wenn man ihn verheizt. Kohlen schienen sie nicht bekommen zu haben, und es lagen zum Trocknen ganze Haufen von schwärzlich grauen Torfwürfeln am Ofen. Meine Mutter umarmte mich mit ihren dünnen Armen, dann legte sie sich, vor Schwäche schwankend, über ihren alten Kleidern einen wollenen Sweater, auf ein Sofa nahe dem Ofen und zitterte vor Fieber. Sie war kaum zu erkennen. Was mir da weinend an der Brust gelegen hatte, war ein von Lungenschwindsucht und von Kummer ausgehöhltes Wesen, nur noch der Schatten der Frau, die ich noch vor einem Jahr gesehen hatte. Sie hustete fast ohne Unterlaß. Ihre einst so prachtvollen Schwarzkirschenaugen lagen tief in den Augenhöhlen, sie brannten in krankhaftem Feuer. Sie sprach viel und leise, atemlos, überhastete sich, doch schien sie alles überlegt, vorausbedacht zu haben.
Ich wollte näher an ihr Sofa rücken, auf das sie zurückgekehrt war, ihre Decke bis an ihr spitz gewordenes Kinn ziehend, aber sie, in der Befürchtung, mich anzustecken, flehte mich an, ich solle ihr nicht zu nahe kommen. Mein Vater war auf der Post, um nach Briefen von mir zu fragen. Die Postboten waren in einen Proteststreik getreten und hatten ihre Bestellgänge eingestellt, leerten die Postkästen nicht, und mein Vater wußte nicht, ob die Briefe und ein Telegramm, die er in den letzten drei Tagen an mich geschickt hatte (solange hatte meine Reise von P. hierher infolge der schlechten Eisenbahnverbindung gedauert), mich noch in P. angetroffen hatten. Sie fragte mich, ob ich nicht in Not sei, ob ich gegessen habe, ob ich ein Quartier habe. Ich beruhigte sie. Ich hatte viel Geld gespart, denn in P. hatte ich fast nichts ausgeben können. Ich bot ihr Geld an. Vielleicht war sie es, die in Not war, fiel mir schwer aufs Herz. Sie nahm hastig das Geld und verbarg es unter dem Kopfpolster.
Sie erzählte mir, stockend jetzt und wie von Scham gehemmt, sie lebe nicht mit meinem Vater allein, sondern es sei auch der Sommergast wiedergekommen, das blonde Kind, das ungetreue, ›abgefeimte‹ Wesen, die verstockte Lutheranerin. Mein Vater und sie hätten sich bereits untereinander verabredet, sie wisse genau, wie es um sie stehe. Man wolle es ihr verheimlichen und ihr trügerische Hoffnungen machen. Mein Vater sei fast den ganzen Tag aus dem Haus, aber Heidi habe sich geweigert, den Geistlichen heute nochmals kommen zu lassen, nachdem er schon gestern dagewesen sei. Aber gestern hätte sie sich noch nicht so todesnah und klar gefühlt wie heute. Vielleicht habe sie auf mich warten müssen. Ihr sei jetzt wohl. Ich solle ihr die Liebe tun, sofort zu ihm zu gehen und mich weder von meinem Vater noch von der Lutheranerin abhalten lassen. Ich sah, sie war bei vollem Bewußtsein trotz des hohen Fiebers, 39 ½ Grad.
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