Ich - der Augenzeuge
die naturwissenschaftliche Erkenntnis gilt für ihn nicht mehr, und der Geist sprengt die Mauern, bei Ihnen die dicke weiße Schicht in der Hornhaut, aber vielleicht haben Sie diese Kraft zum Wunder nicht.« – »Wie kann ich es denn wissen?« fragte er. »Das müssen Herr Stabsarzt wissen.« – »Trauen Sie sich aber den Willen zu?« antwortete ich. »Dann versuchen Sie es, öffnen Sie die Augen weit. Ich werde jetzt meine Kerze mit einem Zündhölzchen anzünden. Haben Sie den Funken gesehen?« – »Ich weiß nicht«, sagte er, »ein Licht nicht, aber eine Art weißen runden Schimmers.« – »Das ist nicht genug«, sagte ich, »das reicht nicht, Sie müssen blind an sich glauben, dann werden Sie aufhören, blind zu sein. Sie sind jung, es wäre schade um Sie! Sie wissen, daß Deutschland jetzt Menschen braucht, die Energie und blindes Vertrauen in sich haben. Mit Österreich ist es zu Ende, aber mit Deutschland nicht.« – »Das weiß ich«, sagte er mit ganz veränderter Stimme, stand auf und hielt sich an der Tischkante fest. Aber er zitterte noch. »Hören Sie«, sagte ich fest, »ich habe hier zwei Kerzen, eine rechts, eine links. Sie müssen sehen! Sehen Sie sie?« – »Ich fange an zu sehen«, sagte er, »wenn es doch möglich wäre!« – » Ihnen ist alles möglich! Gott hilft Ihnen, wenn Sie sich selbst helfen ! In jedem Menschen steckt ein Stück Gott, das ist der Wille, die Energie! Fassen Sie alle Ihre Kraft zusammen. Noch mehr, noch mehr! Gut! Jetzt genug! Was sehen Sie jetzt?« – »Ich sehe Ihr Gesicht, Ihren Vollbart, Ihre Hand und den Siegelring, Ihren weißen Kittel, die Zeitung auf dem Tisch und die Aufzeichnungen über mich.« – »Setzen Sie sich«, sagte ich, »ruhen Sie sich aus. Sie sind geheilt, Sie haben sich selbst sehend gemacht.« Ich stand auf und ging im Zimmer umher. H. folgte mir jetzt mit seinen Blicken, ganz wie es ein Mensch mit normalem Auge tut. Er sah auch auf den Tisch und versuchte, meine Aufzeichnungen über ihn zu entziffern. »Sie haben sich wie ein Mann gehalten«, sagte ich, »und wenn Sie in Ihre Augen Licht gebracht haben kraft Ihres Willens, so werde ich in Ihre Gehirnzellen kraft meines Willens etwas wohltätige Dämmerung bringen, und Sie werden von heute an wieder beginnen zu schlafen. Sie werden bis auf Widerruf alles tun, was ich, zu Ihrem Wohl, befehle. Wollen Sie das?« – »Wie Herr Stabsarzt befehlen. Schlafen! Wenn Sie aber das zustande bringen könnten?!!« Ich sagte nun nichts mehr, ließ ihn nochmals aufstehen, um sich von mir auf den Untersuchungstisch betten zu lassen. Ich schob ihm die in die Stirn hereinfallende Stirnlocke zur Seite, strich ihm über die feuchte kalte Stirn und suggerierte ihm, ohne ein Wort, ihm unablässig in die Augen blickend, er werde die Augen schließen und werde sie, auch wenn ich sie ihm auseinanderzuziehen suche, nicht mehr öffnen können und werde dann ohne einen Traum bis zum nächsten Morgen schlafen. Alles geschah, wie ich es wollte. Ich hatte das Schicksal, den Gott gespielt und einem Blinden das Augenlicht und den Schlaf wiedergegeben. Am nächsten Tag schrieb ich an Helmut, der im Kriegsministerium diente, er möge versuchen, einem Gefreiten A. H. einen Druckposten zu verschaffen. Druckposten hieß leichter Posten, wo ein solcher Mensch sich erholen konnte.
In jene Zeit fiel ein in der ›Vossischen Zeitung‹ veröffentlichter Aufruf des Juden Walther Rathenau zu einer Erhebung des gesamten Volkes, einer Levée en masse, um die Grenzen zu schützen. Der Aufruf fand keinen Widerhall, denn Rathenau hatte keine Autorität und wußte die Massen nicht zu packen. Das Heer zog sich zurück. Die Dynastien sanken eine nach der anderen ohne Kampf und ohne Klage von den Thronen, und es gab keine Ordnung mehr. Man warf den früheren Herrschern vor, sie hätten das Volk belogen und getäuscht. Niemand wollte zugeben, daß der Krieg verloren war und das Volk diese Lügen und Täuschungen verlangt hatte.
Die Soldaten und Offiziere strebten nach Abschluß des Waffenstillstands der Heimat zu. Das Lazarett leerte sich schnell. Die Gewißheit, vor der Kugel geschützt zu sein, bewirkte so viele Heilungen von Gelähmten, Zitterern, Kriegsblinden und -tauben, wie es kein Arzt hatte zustande bringen können. Ich nahm Urlaub. Im Lazarett herrschte Unordnung, Trubel, es bestand kein Kommando mehr, seit es keinen ›obersten Kriegsherrn‹ mehr gab. Ich sammelte die Krankengeschichten verschiedener Patienten, unter ihnen
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