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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Unterseele schlummern mochte, fragte ich ihn, ob er nicht von Frauen enttäuscht worden sei, ob er vielleicht eine jüdische Frau kennengelernt habe, die ihm nicht gut gewesen sei. Er wurde zuerst glühend rot, dann blaß vor Wut. Aber er bezwang sich, denn er wollte es nicht mit mir verderben. »Herr Stabsarzt wissen ja ohnehin alles«, sagte er spöttisch. Und damit war das Gespräch abgeschnitten. Er sprach nicht mehr, und sein leeres, wie Porzellan glänzendes Auge wanderte zerstreut umher. Jetzt sah er nichts.
    Er hatte eine rauhe, tiefe, mißtönende Stimme, aber man konnte sich ihr nicht leicht entziehen. Ich hatte viel Arbeit für den nächsten Tag vor, und trotzdem hätte ich ihm noch lange zuhören mögen. Er war übrigens auch einer ›schönen Musi‹ sehr zugänglich und liebte Wagners, des Judenfeindes, Werke am meisten.
     
    Das Los eines mit hysterischer Blindheit geschlagenen Menschen ist immer sehr schwer. Er ist mehr Krüppel als einer, der auf zwei Prothesen daherhumpelt. Er ist unglücklicher als ein ›echter Blinder‹. Ein solcher Mensch findet sich oft sehr schnell mit seinem Unglück ab. Die echten Blinden sehen nach innen. Sie arbeiten sehr gerne, sind anstellig, bescheiden, lernen ein Blindengewerbe ausüben, lernen Blindenschrift lesen. Oft gründen sie eine Familie, und man ist überrascht von ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck. Man bemitleidet sie, was sie gar nicht wollen, und hilft ihnen. Anders ist es aber mit den hysterisch Blinden. Hier im Lazarett hatte H. gut Sympathien sammeln. Er war hier noch von Staats wegen und auf Staatskosten untergebracht, er litt keine äußere Not, hatte sogar viel Gesellschaft, er war mit allem Nötigen versehen. Der Krieg ging aber zweifellos seinem Ende entgegen. Was konnte dann für diesen Mann kommen? Wer nahm ihn auf? Nicht die Blindenanstalt, nicht die Heimatgemeinde, nicht einmal eine Irrenanstalt. Er hatte keine Familie, seine Heimat war die Kaserne. Er war nicht richtig avanciert, denn der Unteroffizier beginnt erst beim Sergeanten, aber er war ein guter Soldat, der Gefreite. Er war Soldat, Soldat, Soldat und sonst nichts.
    Aber selbst wenn die alte Armee weiter bestünde, was sollte sie mit einem Menschen beginnen, der nicht sehen konnte? Er, der schon einmal beinahe gebettelt hatte, der auf Hausieren mit Postkarten angewiesen war, er konnte weiter betteln; Postkarten zu bemalen war er aber nicht mehr imstande.
    War ihm zu helfen? Ich dachte lange nach, und endlich ging es mir auf. Ich konnte versuchen, durch eine ingeniöse Verkuppelung seiner zwei Leiden mit seinem Geltungstrieb, seinem Gottähnlichkeitstrieb, seiner Überenergie einen Weg zu finden, ihn von seinen Symptomen zu befreien. Daß ich ihn damit nicht von seiner Grundkrankheit heilen konnte, gestand ich mir nicht ein. Da war ich blind. Ich wollte es nicht sehen, weil mich eine Art Leidenschaft ergriffen hatte. Auch ich wollte wirken, ich mußte handeln. Ich wollte herrschen, und jede Tat ist mehr oder weniger ein Herrschen, ein Verändern, ein Sich-über-das-Schicksal-aktiv-Erheben. Auch H. hatte sich über das Schicksal erhoben. Er wurde lieber blind, als daß er sich den Untergang Deutschlands ansah. Seine Blindheit war ein Zeichen seines außergewöhnlich starken Willens.
    Ich mußte diesen Mann, der bei aller seiner Nüchternheit beim Wein in seinem Größenwahn ein hemmungsloser Phantast war, mit der Phantasie fassen. Er, der vielleicht im einzelnen nicht immer mit Absicht, Ziel und Zweck log, sondern im ganzen ein Stück gigantischer Lüge war, für den es keine absolute Wahrheit gab, sondern nur die Wahrheit seiner Phantasie, seines Strebens, seiner Triebe, ihm mußte ich nicht mit logischen Überlegungen, sondern mit einer großartigen Lüge kommen, um ihn zu überwältigen.
    Ich ließ ihm durch den ihm so sehr gewogenen Unteroffizier mitteilen, ich interessiere mich für seinen Fall, der etwas Außergewöhnliches sei und der vielleicht in einer Stunde geheilt sein könne, und ich würde ihn im Laufe des Tages sofort holen lassen, sobald ich eine freie Minute hätte. Er setzte eine abweisende Miene auf, berichtete man mir, vielleicht hatte er Angst, ich könnte ihn durchschaut haben. Ich ließ ihn gar nicht erst kommen. Ich hatte tatsächlich andere Arbeit genug. Er sollte gespannt sein. Er sollte nach mir rufen, er sollte mich sehnsüchtig erwarten, und er war es, der eines Abends durch den verlassenen Korridor angetappt kam und Einlaß begehrte. Ich ließ ihn eintreten,

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