Ich - der Augenzeuge
schrieb aber seelenruhig weiter, das Kritzeln der Feder mußte er hören. Er wagte nicht, mich anzusprechen. Ich ließ ihn stehen und ging aus dem Raum. Er kehrte erst viel später in den Korridor zurück.
Ich ließ mir Zeit. Ich wußte, er schlief jetzt gar nicht mehr. Die Aussicht, ich könne ihm den Schlaf wiedergeben, erregte ihn so, daß er nicht einmal zwei bis drei Stunden schlief, was er vorher getan hatte. Endlich glaubte ich, er sei vorbereitet. Ich ließ ihn eintreten, zündete zwei Kerzen an und begann, seine Augen mit dem Augenspiegel zu untersuchen. Die Hornhaut spiegelte, sie war glatt, die Bindehaut war etwas gerötet, eine Folge der Schlaflosigkeit. Die Augen, etwas hervorstehende, blaugraue Augen von merkwürdig stechendem, bestechendem Ausdruck, tränten ein wenig. In seinen Zügen drückte sich furchtbare Spannung aus, ich sah, er fürchtete, ich würde ihm sagen, was ihm bisher alle Ärzte und der jüdische Pfleger gesagt hatte, daß er lüge, daß seine Augen gesund seien und daß er doch sehen müsse , wenn er nur wolle.
Ich tat das Gegenteil. Aufseufzend tat ich den Augenspiegel wieder in das Futteral zurück, löschte die Kerzen aus und sprach im Dunkel mit ihm. Eigentlich war es ja nur für mich dunkel geworden, für ihn war es immer so gewesen seit seinem Abgang oder seiner Flucht von der Front. Ich sagte ihm, meine ursprüngliche Ansicht habe sich nach verschiedenen Zweifeln doch als wahr erwiesen, seine Augen seien durch das Gelbkreuz furchtbar geschädigter könnte tatsächlich nichts sehen. Ich hörte ihn aufatmen. Ich fügte hinzu, ich hätte auch niemals annehmen können, daß er, ein reiner Arier, ein guter Soldat, ein Ritter des Eisernen Kreuzes Erster Klasse, lüge und etwas vortäusche, das nicht bestehe.
Leider sei damit auch meine Möglichkeit, ihm zu helfen, abgeschnitten. Es wäre mir ein leichtes gewesen, ihn von seiner Schlaflosigkeit zu befreien, wenn er meinen Blick hätte auf nehmen können oder wenn er seinen Blick auf irgendein glänzendes Objekt hätte konzentrieren können. Die Hypnose wirke durch das Auge. Blinde könne man nicht hypnotisieren, ich wenigstens könne es nicht. Jedermann müsse sich in alles schicken, gegen das Schicksal sei nichts zu tun. Außer diesen wenigen Sätzen sagte ich nichts. Er tat, als wolle er von seinem Stuhl aufstehen und fortgehen, aber ich hatte ihn schon gebannt, und er setzte sich wieder hin. Er schüttelte den Kopf. Er wehrte sich gegen mich, aber jetzt war ich der Stärkere, da ich auf die Unterseele dieses Menschen wirkte. Denn im Grunde seiner Seele wollte er wieder sehen, und sein Wunsch war, ich sollte ihn mit Gewalt dazu zwingen. Voll Freude an meiner Übermacht fühlte ich, ich hatte ihn in der Gewalt. Ohne es ihm zu befehlen, dachte ich mit aller Energie daran, er solle seine Hände über dem Schoß falten. Er tat es. Er solle an seinem Eisernen Kreuz nesteln, als wollte er es abnehmen. Er gehorchte. Ich befahl ihm, er solle mir sein Geheimnis mit den Frauen mitteilen. Ich überwand den Widerstand, und er sprach. Ich befahl ihm, er solle den rechten Arm ausstrecken, er zögerte, aber dann tat er auch dies.
Kein Wort mehr, ich wußte, was ich wissen mußte. Alles ging jetzt stumm vor sich, Geist gegen Geist. Ich sah, er hatte Durst. Ich brachte ihm kein Wasser, wozu auch? Es wäre Wahnsinn gewesen, die Sitzung jetzt zu unterbrechen.
Nachdem ich alles in Erfahrung gebracht hatte, hieß es wirken. »Es geschehen keine Wunder mehr«, sagte ich. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und antwortete nicht. »Aber«, setzte ich fort, »das gilt bloß für Durchschnittsmenschen. Es sind an auserwählten Menschen dennoch oft Wunder geschehen, es muß doch Wunder geben und große Menschen geben, vor denen die Natur sich beugt, glauben Sie nicht?« – »Wie Sie denken, Herr Stabsarzt«, sagte er heiser. – »Ich selbst bin kein Scharlatan, kein Wundertäter«, sagte ich, »ich bin ein einfacher Arzt, aber vielleicht haben Sie selbst die seltene, in allen tausend Jahren einmal vorkommende Kraft, ein Wunder zu tun. Jesus hat solche getan, Mohammed, die Heiligen.« Er antwortete nicht, sondern starrte vor sich hin und atmete schwer. »Ich könnte Ihnen nur die Methode angeben, mit deren Hilfe Sie sehen würden, obgleich Ihre Augen verätzt sind vom Gelbkreuz. Ein gewöhnlicher Mensch wäre mit Ihrem Augenbefund blind auf Lebenszeit. Aber für einen Menschen von besonderer Willenskraft und geistiger Energie gibt es keine Grenzen,
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