Ich - der Augenzeuge
Die Unterseele hatte keine Gewalt über sie, da ihre Vernunft durch den katholischen Glauben an das Jenseits aufrechterhalten wurde. Sie hielt mich aber noch einen Augenblick zurück, die Worte mehr mit den Lippen formend als mit dem Atem, da offenbar ihre starken Schmerzen das tiefe Luftschöpfen und das Sprechen fast unmöglich machten. Sie flüsterte, sie wisse, sie habe mir Unrecht getan, ich sei an Vroni nicht schuldig gewesen, auch Vroni sei nicht an dem ganzen Unheil schuld gewesen, und sie habe in ihrem Letzten Willen bestimmt, sie und meine unehelichen Geschwister sollten etwas aus ihrem Vermögen erhalten, Vroni sollte die schönen Kleider von einst bekommen, die noch in der Truhe lägen. Sie verzeihe ihr, auch ihrem Mann, nur der Heidi nicht, so nannte sich das blonde lutheranische Fräulein, eine Lehrerin aus Pommern. Dann hauchte sie, meine Hände mit ihren fast gewichtlosen Händen streichelnd und sie dann eine nach der andern an die Lippen und an ihre Brust führend, als könnte ich ihr die Lippen kühlen oder den Schmerz in der Lunge besänftigen, ich solle noch Geduld mit ihr haben und bei ihr bleiben, bis es zu Ende sei. Den Arzt wollte sie nicht mehr, die Spritzen schmerzten, aber halfen nicht mehr, die Wissenschaft sei eitel Trug, das wisse sie seit dem Judenkaiser. (Daß sie damit auch mich und meinen Beruf angriff, kam ihr nicht in den Sinn.) Sie müsse sich in ihr Schicksal schicken, deshalb heiße es Schicksal, sagte sie mit einem herzzerreißenden, schelmisch sein sollenden Lächeln. Sie gab mir, plötzlich verstummend, das Geld zurück und meinte dann, sie brauche es ja nicht mehr.
Wahrscheinlich hatte sie lange Zeit hindurch den Wunsch gehabt, über Geld zu verfügen. Aber Heidi führte die Wirtschaft.
Sie irrte unruhig mit den Blicken umher, auch mit einer Art Angst, als wollte sie den Ausgang finden. Dann faßte sie sich. Ich sollte nach dem Begräbnis dem Ortspfarrer persönlich eine Summe übergeben für soundsoviel Messen, hier und in ihrem Heimatort zu lesen. Sie wisse nicht, ob das ausreiche, alles sei jetzt so teuer geworden. Aber ich solle ja nicht sparen damit, auch wenn ich nicht ans Fegefeuer glaubte. Begraben wolle sie in M. werden. Alles in größter Einfachheit. Sie sterbe nicht gern. Sie habe sich sehr auf mich gefreut, und sie habe viel gebetet und gut gebetet. Denn Gott und die Hl. Jungfrau hätten sie erhört, daß ich den Krieg überlebt habe, der soviel prächtigen jungen Menschen das Leben gekostet habe. (Ein Schatten kam an den Fenstern vorbei.)
Sie sprach jetzt noch leiser, ich mußte ihre Lippen ganz nahe ansehen, um sie zu verstehen. Der Torf prasselte, knallte auf, einen Augenblick wurde es im Zimmer hell, dann wurde es wieder dämmerig. Sie wollte nicht, daß ich schon Licht machte. Ich glaube, sie wollte mich nicht erschrecken durch ihr elendes, verwüstetes Aussehen. Die weibliche Eitelkeit war nicht ganz erloschen. Sie hatte alle ihre Ringe noch, auch den, den mein Vater ihr gelegentlich des ›Operatiönchens‹ gekauft hatte. Die Erinnerung kam über mich, der Schmerz stieg mir die Kehle hoch, und die Tränen waren da. Sie sah es mißbilligend und zog sich etwas an die Wand zurück. Ich dachte mir, sie würde sich wohler fühlen, wenn sie statt Kleid und Sweater ein Nachthemd und eine Flanelljacke anzöge. Sie schüttelte den Kopf, es war ihr nicht recht. Sie wollte bleiben, wie sie war, und sie wollte nicht, daß ich ihr durch meinen Schmerz das Unvermeidliche schwerer machte. Sie wollte gut und fromm, das heißt freudig und getröstet sterben. »Geh jetzt, geh!« sagte sie, ließ mich aber nicht los, sie hielt mich unabsichtlich fest, so wie sie es früher des öfteren getan hatte. Ich sah, sie hatte noch etwas auf dem Herzen, und da sich wieder der Schatten am Fenster gezeigt hatte und ich nicht wußte, ob wir im Laufe des Abends noch allein sein würden, bat ich sie, es mir schnell zu sagen. Sie erhellte sich sofort und kam näher zu mir, sich angestrengt auf dem Sofa bewegend, sie nickte, ich hatte ihre Gedanken erraten. »Aber du versprichst mir«, sagte sie, »daß du niemals böse bist darüber. Und daß du es mir nie in Gedanken vorwirfst, wenn es dir dann doch nicht leicht wird. Auch mußt du nicht sofort antworten, du kannst mir morgen sagen, ob du dich binden willst. Nein, aber nein«, sagte sie nach einem furchtbaren Hustenanfall, und die dunklen Augenlider flatterten vor Erregung über ihren brennenden tiefliegenden Augen, »morgen ist
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