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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Diskussionen. Eines Tages war für den Gefreiten die Gelegenheit gekommen, in die Diskussion einzugreifen.
    Es ging um die Juden. Ein paar Redner waren nicht sehr für sie, andere nicht sehr gegen sie. Jetzt aber kam H. Mit besinnungsloser Wut stürzte er sich in die Diskussion und redete sich, wie er es schon in P. getan hatte, in einen Rausch, ein Delir hinein, dem niemand widerstehen konnte. Er schlug, schmetterte den Gegner zu Boden, ließ kein Gegenargument, keine Logik, keine historische Tatsache gelten. Er machte dem Gegner niemals die geringste Konzession, er wurde immer fanatischer, je länger er sprach. Er wurde unersättlich, schrankenlos, dämonisch, er hypnotisierte so die Anwesenden, wie ich ihn einmal hypnotisiert hatte, durch die Energie des tausendmal eingehämmerten Gedankens, durch die Verengung des geistigen Gesichtsfeldes. Keine Fülle des Geistes. Kein Zweifel. Kein Umlernen. Kein Zulernen. Ein Gedanke, zwei, höchstens drei, diese aber immer wiederholt, mit immer gewaltigerer Glut, im Schweiße des Angesichts, blind, mit religiösem Fanatismus, mit Gebärden voll prachtvoller Wucht, Tränen im Auge, außer sich, fast außer der Welt. So sah ich ihn nach Jahren wieder, als ich, zwischen Helmut und R. sitzend, in der Au-Kaserne seiner ersten großen Rede lauschte.
    Der Saal kam mir bekannt vor. Es war ein Mannschaftszimmer jener Kaserne, die jetzt in eine Reichswehrkaserne umgewandelt war. Es war der gleiche Raum, in den man mich nach meiner Verletzung gebracht hatte, der jetzt als Vortragsraum diente. Er war bis zum Bersten gefüllt und widerhallte von tobendem Applaus. H.s Triumph war groß. Hauptmann R. trat zu dem Gefreiten, der sofort stramme Haltung annahm, und versprach ihm, ihn zum Bildungs -Offizier zu ernennen. Schon in der letzten Kriegszeit hatte man Offiziere zwecks Stärkung der Moral zur Fronttruppe beordert und sie dann als Unterrichtsoffiziere bezeichnet.
    H. hatte mich erkannt. Er wurde blaß und wandte zuerst den Blick ab. Dann bezwang er sich und gab mir die Hand. Ich sah, er hatte eine Scheu vor mir. Das flößte mir aber ein gutes, warmes Gefühl ein, ich wollte ihm weiterhelfen, gerne. War er nicht mein Werk?
     
    In diesen Zeiten, die härter waren als alle früheren, war ich schmerzempfindlicher geworden denn je zuvor. Meine Liebe zu Viktoria war eine Quelle steter Leiden. Ich kann selbst jetzt nicht ausdrücken und begreife es heute nicht mehr, wie tief es mir ging und wie unglücklich ich war. Die Einsamkeit half mir nicht, und der Wille versagte vor dem Gefühl. In der Kirche, wohin es mich immer wieder zog, obwohl ich weder an Gott noch an Christus und das Wunder glaubte, betete ich, aber die Gebete widersprachen sich: einmal betete ich, ich möchte Viktoria vergessen können, ein andermal, daß ich trotz allem mit ihr glücklich werden möchte. Und obwohl ich nicht an Gott glaubte, suchte ich ihn als einen Willen über mir.
    Ich hatte noch von früher her einen väterlichen Freund, einen Mann von hoher geistiger Autorität, der mich als Studenten, als jungen Arzt bis Kriegsausbruch erzogen und geführt hatte, da ich in solchen Zeiten nun einmal nicht ganz ohne Führung leben konnte, sowenig wie unzählige andere. Wie gern hätte ich mich also dem Geheimrat von Kaiser anvertraut! Wie oft hab' ich daran gedacht, ihn aufzusuchen, bis der Zufall oder das Schicksal ihn mir in den Weg führte – führen mußte, weil er in einer ähnlichen Lage war wie ich. Ich sah diesen Mann – in der Kirche wieder. Er lag auf den Knien neben mir, und wir erkannten einander in der Dämmerung erst, als wir aufstanden. Seine verwitterten Züge drückten weder Andacht noch Trost im Himmlischen Vater, noch Hoffnung auf die Erlösung des frommen Christen im Jenseits und Dankbarkeit für das Leiden aus, sondern nur die bare Verzweiflung. Ich sah mich selbst im Spiegel.
    Freilich war er ein Mann an der Schwelle des Alters, und ich war wenig über Dreißig. Um so trauriger, daß selbst ich in meiner Manneskraft und bei meinem klaren Verstand und Wissen der Verwirrung und Verzweiflung einer entwurzelten Zeit keinen Widerstand leisten konnte und der zwar schwierigen, keineswegs aber aussichtslosen Liebe zu einer Viktoria nicht gewachsen war.
    Ich begleitete Kaiser heim. Ich erfuhr, was ich schon vorher geahnt hatte, daß er seinen Trost in der Kirche suchte, nicht weil seine Katinka fern war, sondern weil sie zurückgekehrt war zu ihm. Freilich war es eine andere Katinka, nicht mehr das kindliche

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