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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Ding mit der rosigen Stimme, sondern ein abgestumpftes, illusionslos gewordenes altes Kind, das vom Tag in den Tag lebte und sich irgendwie berauschte. Von Oswald Schwarz hatte sie sich ›in aller Liebe und Güte‹ getrennt, da dieser seinen alten Neigungen zu Männern, die ihm außer Zärtlichkeit auch geistige Anregung entgegenbrachten, auf die Dauer nicht hatte entsagen können.
    Vater Kaiser hatte also zwei Menschen unter seinem Dach, die von Oswald Schwarz angezogen und dann abgetan worden waren, Helmut und sie. Sie ließ sich jetzt gern die Zärtlichkeiten des greisen Freiers gefallen, ja sie forderte sie sogar heraus. Sie wollte geliebt sein. Er sei der einzige Mensch, versuchte sie ihm zu schmeicheln, der noch eine Rolle in ihrem Leben spiele, als ob die verliebten Frauen, die sie an sich zog und von sich stieß und mit denen sie so spielte, wie zum Schluß Oswald Schwarz mit ihr gespielt hatte, für nichts gezählt hätten.
    Der alte Kaiser wußte wohl, woran er war. Er hätte sich jetzt aus freien Stücken von Katinka trennen, sie sich selbst überlassen, ihr nur den Lebensunterhalt sichern können, wozu er dank seines in der Bank von England gut angelegten Vermögens imstande war. Aber er zog es vor, von den Brocken zu leben, welche die zur Bettlerin in der Liebe gewordene Katinka ihm je nach Laune und Stimmung hinwarf.
    Dabei war sein Licht noch nicht erloschen, seine dunklen Augen funkelten in leidenschaftlichem Feuer, die Klarheit seines Geistes war nicht getrübt. Er sah vieles, vielleicht alles klar. Er ist es gewesen, der seinen Widerwillen gegen die Juden zuerst überwunden und die drei großen Leistungen des Juden Rathenau anerkannt hat. Aber gerade das warf ich ihm vor, daß er sich jetzt zu den Juden ganz persönlich gut stellte, seit Oswald Schwarz nichts mehr von Katinka wissen wollte. Er sah in dem großen Juden den Retter des niedergeschmetterten, tief gesunkenen Reiches. Erstens kraft seiner Leistung während des Krieges, der Organisierung der deutschen Kriegswirtschaft, dann kraft des Aufrufs im November 1918 zur Levée en masse und schließlich kraft seiner letzten staatsmännischen Tat, nämlich des im April 1921 geschlossenen Vertrags von Rapallomit den Bolschewisten. Dieser Vertrag bedeutete den ersten Schritt zum Wiedereintritt Deutschlands in die Weltpolitik.
    Das alldeutsche Programm der Vaterlandspartei lebe mehr denn je. Es sei nicht etwa durch den strategischen Verlust des Krieges unmöglich geworden. Nur die Schlachten seien verloren worden, die alten Ziele seien zu sehr verschwommen gewesen. Aber Deutschland habe die Katastrophe überlebt, also gesiegt. Der Krieg sei gewonnen. Nur zwei Bedingungen müßten erfüllt werden (die beide Rathenau erfüllt hat): Deutschland müsse die von Bismarck verlangte Rückendeckung im Osten haben, zu Rußland mit seinen riesigen Bodenschätzen, mit seiner gewaltigen, menschenarmen, leicht urbar zu machenden Fläche bis Ostasien hin, mit seinem stumpfen, zu allem Großen fähigen Menschenmaterial, das der deutschen Schule, der deutschen Disziplin und Überdisziplin und des deutschen Organisationsgenies bedürfe. Aber man lasse in nationalen Kreisen und in der Reichswehr Rathenau nicht als Staatsmann gelten. Das Bündnis mit Rußland sei zwar unter den Generälen sehr populär, aber der Judenhaß verblende alle. Und zweitens – warum sollte sich Deutschland nun nicht auf den Geist des Kosmopolitismus, auf die Juden stützen, die stets, trotz aller ihrer Schwächen, obwohl man ihnen nur einen bescheidenen Platz im Reich eingeräumt hatte, zu den besten deutschen Patrioten gezählt hätten? Er erwähnte den sozialistischen Abgeordneten Lazarus, den Mann Viktorias, der für sein Vaterland in den Krieg gegangen und gefallen sei, und das Beispiel des Gründers der deutschen Handelsflotte, Ballin, der den Krieg nicht wie sein Gönner, der Exkaiser, habe überleben wollen, sondern der durch Selbstmord geendet habe aus Liebe zu seinem Lande, nicht aus Liebe zu seinem Blut. Ich sah alles ein, er hatte weitreichende, vielleicht plausible Ideen. Dennoch folgte ich ihm nicht. Er riß mich nicht mit. Er war Mensch wie ich, er liebte wie ich. Seine Persönlichkeit wurde der meinen nicht Herr (nun nicht mehr), so wie Rathenaus Persönlichkeit des deutschen Volkes nicht Herr geworden war.
    Er suchte in mir den Freund. Ich nahm die Freundschaft an. Sie war besser als nichts. Aber ich verschwieg ihm meine eigenen Erlebnisse, und als er bei mir Zuflucht suchte,

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