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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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werde uns die Abfindung vor die Füße werfen, welche meine Mutter ihr zum Hohn vermacht habe, um ihr die Ansprüche abzukaufen, die sie auf meinen Vater hätte. Sie schmähte und grollte in so furchtbaren Ausdrücken, daß ich das Gespräch abbrach, denn es war nicht geeignet für die Ohren meiner Geschwister, die anwesend waren.
    Ich war nicht alt. Mir fehlte die Frau. Angelika liebte ich nicht mehr. Ich hatte sie eigentlich nie geliebt, hatte sogar geglaubt, ich wäre einer tiefen Leidenschaft nicht fähig, und wir hätten nur wie zwei Kameraden zusammengelebt. Nun liebte ich Viktoria und konnte sie nicht gewinnen, sie aber auch, mit aller Gewalt, nicht vergessen.
    Angelika kam zu mir. Sie weinte, sie flehte mich um meine ›alte Liebe und Güte‹ an, sie warf sich mir zu Füßen, als hätte sie mir etwas Furchtbares abzubitten. Ich hob sie kalt auf. Ich redete ihr wie einer Kranken gut zu. Sofort wurden ihre Augen trocken, sie setzte sich in einem Lehnstuhl bequem zurecht und sah sich mit den Augen einer Hausfrau in dem etwas vernachlässigten Raum voll Staub und Spinngeweben um. Das Haus war außen mit Efeu umwachsen, allerlei Insektengetier trieb sich im Arbeitszimmer, in welchem ich meine Patienten empfing, umher.
    Wir sprachen jetzt nicht mehr über unsere Zukunft, wie wir es in der guten Zeit getan hatten. Angelika war klug und mußte wissen, daß ich sie nicht liebte. Ich hätte sie nicht bei mir aufnehmen sollen. Ich tat es dennoch aus Angst vor Einsamkeit, und mir war etwas leichter zumute, als sie ihre Sachen in meinem Haus, aber nicht in meinem Zimmer untergebracht hatte. Sie kam mir nicht zu nahe.
    Abends, wenn ich todmüde heimgekehrt war, fand ich alles bestens vorbereitet. Was mir von den Kranken zu melden war, hatte sie im Verlauf meiner Abwesenheit aufgenommen, ich konnte mich auf ihre Angaben verlassen, meine Fälle mit ihr besprechen. Sie hatte nicht ohne Nutzen so viele Jahre in dem Haus eines Arztes wie von Kaiser zugebracht. Sie forderte keine Zärtlichkeit, keinen Kuß, ihr Händedruck, auch ihr Blick blieb eher kameradschaftlich kühl. Ich dachte, ich müßte ihr dankbar sein und gerecht werden. Das gleiche Argument, das ich als hohl erkannte, als es mein Vater vorgebracht hatte, um seine Ehe mit Heidi zu rechtfertigen, für mich nahm ich es in Anspruch. Ich zog sie eines Abends in meinen Schlafraum, dann graute es mir plötzlich vor ihr, vor mir, ich schob sie fort, sie lag mir wieder zu Füßen, als wollte sie getreten sein, aber auch wieder aufgenommen, emporgerissen, ich ahnte nur zu gut, wohin. Denn es waren nicht mehr die gemäßigten harmonischen Zärtlichkeiten wie vor dem Kriege, sondern ich gab nun meinem dumpfen Triebe nach, den ich nach den Gurkhastürmen in mir erkannt, und sie dem ihren nach Schmerzseligkeit, nach Dienen, Sklavin sein. Wenn wir früher nach einer ›netten Stunde‹ ruhig auseinandergegangen waren, jeder eine Zigarette im Munde, dauerten jetzt die Küsse und der Rausch fast die ganze Nacht. In den Zwischenzeiten preßte sie sich mit solcher Gewalt an mich, daß mich meine nach dem Lungenschuß schlecht zusammengeheilten Rippen schmerzten.
    Sie erzählte flüsternd, mit heißem Atem wie von einem herrlichen Geheimnis, von H., zu dessen glühendsten Bewunderinnen sie gehörte, weil er so rein sei und angeblich niemals ein Weib berührt habe. Sie wußte, ich kannte ihn aus den letzten Tagen des Krieges. Wie gerne hätte sie mehr über ihn gewußt!
    Ich erzählte ihr, der ich ihr trotz aller überhitzten Leidenschaft entfremdet blieb, niemals von A. H., auch nie von Viktoria. Ich dachte, sie ahne nichts davon. Aber sie, dem Anschein nach die ehrliche, mir getreu ergebene Seele, ›die Sklavin ihres hohen Herrn‹, wie sie sich süßlich bescheiden nannte, wußte wenigstens das eine, daß sie nicht alles wußte. Sie vermied es mit Absicht, von dem fanatischen Judenhaß H.s zu sprechen. Sie sah in ihm einen von jedem Haß freien, bloß von Liebe, Vaterlandsliebe erfüllten Mann, dem alles gut sein müsse. So hatte sie kaum eine seiner vielen Versammlungen ausgelassen, in denen er als Redner seine Triumphe feierte.
    Eines Abends hatte sie mich dazu gebracht, mit ihr nach M. zu fahren und die Obhut meines Fernsprechers dem Heidi zu überlassen, mit dem sie sich sehr schnell angefreundet hatte. Wir wollten aus M. telefonisch in S. anfragen, um zu erfahren, ob ich nicht inzwischen zu einem Kranken gerufen worden sei.
    Ich hörte H. nicht zum erstenmal als Redner,

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